: Geschäft mit Nischenpräparaten
PHARMA Jedes fünfte zugelassene Medikament soll gegen seltene Krankheiten helfen. Die Hersteller bekommen Sonderrechte – und jammern trotzdem
BERLIN taz | Nach Angaben des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (VFA) machen Medikamente gegen seltene Erkrankungen, die sogenannten Orphan Drugs, durchschnittlich ein Fünftel der jährlich neu eingeführten Arzneimittel aus. Mittlerweile sind in der Europäischen Union 68 Medikamente mit dem besonderen Orphan-Drug-Status zugelassen; hinzu kommt ein gutes Dutzend älterer Medikamente, die weiterhin für die Behandlung zur Verfügung stehen, deren Orphan-Drug-Status aber nach zehn Jahren abgelaufen ist.
Im europäischen Zulassungsverfahren befinden sich zudem derzeit zehn Medikamente, unter anderem zur Behandlung lymphatischer Leukämien, Lungenhochdruck und Tuberkulose. Der Verband räumt ein: „Angesichts rund 8.000 bekannter seltener Erkrankungen ist deutlich, dass es noch viel zu tun gibt.“
Aus Sicht vieler Pharmahersteller lohnen die Investitionen in die Erforschung dieser Medikamente indes schlicht nicht. Erstens sei es aufwendig, eine ausreichende Patientenzahl für die zwingend vorgeschriebenen klinischen Studien zu rekrutieren. Ohne diese Studien aber gibt es keine Zulassung von der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA. Zweitens hätten sich die bisherigen Orphan Drugs, so der VFA, „mehrheitlich als kommerzielle Nischenpräparate mit geringem Umsatz“ erwiesen.
Tatsächlich erreichen nur wenige Orphan-Medikamente einen Jahresumsatz von 50 Millionen Euro oder mehr – wie etwa der Wirkstoff Imatinib von Novartis. Imatinib war ursprünglich zur Behandlung chronisch myeloischer Leukämien entwickelt worden, wurde später aber auch gegen weitaus häufigere, bösartige Tumoren eingesetzt.
Der Gesetzgeber setzt durchaus Anreize, damit die Industrie weiter in die Forschung investiert. So genießen die Orphan Drugs einen Sonderstatus bei der frühen Nutzenbewertung durch die Prüfer des Instituts für Wirtschaftlichkeit und Qualität im Gesundheitswesen (IQWiG), der sich alle neu zugelassenen Medikamente unterziehen müssen: Anders als alle anderen Arzneimittel müssen die Orphan Drugs keinen patientenrelevanten Zusatznutzen gegenüber bereits existierenden Medikamenten nachweisen, um einen höheren Erstattungspreis zu erreichen. Vielmehr wird ihnen allein aufgrund ihres „Orphan-Status“ automatisch ein therapeutischer Zusatznutzen zugesprochen – was die Preise in die Höhe treibt.
Pharmakritische Experten wie der IQWiG-Chef Jürgen Windeler warnen deswegen seit Jahren davor, dass die Industrie – um den Sonderstatus zu erhalten und die frühe Nutzenbewertung zu umgehen – zunehmend versuche, auch ganz gewöhnliche Erkrankungen nach Risikogruppen oder Stadien zu unterteilen und sodann aus jedem Teil eine eigene Erkrankung zu machen. „Slicing“, Scheibchenmachen, ist der Fachbegriff hierfür. „Mich“, so Windeler bereits 2010 in der taz, „treibt vor allem um, dass die betroffenen Menschen mit den wirklich seltenen Krankheiten erneut die Verlierer sein werden. Niemand wird sich mehr für sie interessieren, weil plötzlich alles selten ist.“ HEIKE HAARHOFF