: Unterm Pflaster fließt das Geld
Abwasser ist eine Sache, die Alle betrifft, aber Keinen interessiert. Sollte es aber: Kommunen können damit über Jahrzehnte gutes Geld verdienen oder sich mit dem Verkauf des Systems entschulden. Ein bizarrer Rechtsstreit aus Braunschweig
von BENNO SCHIRRMEISTER
Stopp. Das Wort kann Richter Meyer nicht lesen. Mit wehender Robe eilt der Anwalt an den Richtertisch, beugt sich über den Zettel und entziffert, was er kurz zuvor handschriftlich skizziert hatte: „Kanalentwässerung“. Jochen Meyer grinst, ein wenig gequält wirkt das. Er schaltet das Diktaphon wieder an, spult zurück, und sagt „Kanalentwässerung“ ins Mikro.
Der Prozess
Es ist der 7. März, Ort ist das Landgericht Braunschweig und Richter Meyer ist Vorsitzender der Zivilkammer, die sich im Normalfall nicht mit Kanalentwässerung beschäftigt. Die Verhandlung hat sich als ausgesprochen zäh erwiesen, fast drei Stunden. Die Entscheidung, wird der Richter am Ende sagen, verkündet die Kammer am 29. März. Es ist debattiert worden über die linguistische Frage, ob die Konjunktion „samt“ ein einschließendes „und“ ist oder ob, ganz im Gegenteil, sich die Tatsachenbehauptungen der durch sie verbundenen Teilsätze isoliert betrachten lassen, ohne dass es zu einer Einigung gekommen wäre. Der Unterschied zwischen Genehmigung und Erlaubnis ist erwähnt worden. Das Stolpe-Urteil des Bundesverfassungsgerichts samt möglicher Auswirkungen aufs laufende Verfahren hat eine Rolle gespielt, und auch die Lizenz zum Irrtum, die der Bundesgerichtshof Bürgerinitiativen bei vorausgesetzter Redlichkeit 1994 eingeräumt hat.
Jetzt ist die Sitzung so ziemlich am Ende, der Saal ist immer noch brechend voll, deutlich mehr als 100 Zuschauer, man hat in den Schwurgerichtssaal ausweichen müssen, für eine simple Anhörung. Der Oberbürgermeister hätte persönlich erscheinen sollen, das hatte Richter Meyer verfügt. Der Oberbürgermeister ist aber nicht gekommen. „Es ist irgendwie auch ein Tribunal“, sagt einer der Besucher. Ein Abwasser-Tribunal.
Das Abwasser
Abwasser ist wirklich jedermanns Sache. Aber nichts, womit sich Ottonormalverschmutzer gerne auseinander setzen würde – wenn alles bleibt, wie es ist. Man kann das bedauern, wegen der kulturhistorischen Dimension: Seit der Mensch nicht mehr nur in versprengten Siedlungen Eigenbedarfslandwirtschaft betreibt, hat er ein Abwasser-Problem. Und findet ingeniöse Lösungen. Mythologisch-literarische. Handwerklich-technische. Und, spätestens seit Vespasian, finanzwirtschaftliche.
Es sind Epochenunterschiede auszumachen: Im Mittelalter zum Beispiel wird, im christlichen Teil der Welt fast exklusiv der mythologische Ansatz verfolgt: Pest, Cholera und Blattern sind zwar vorhanden, aber als teuflische Untat oder göttliche Strafe hinreichend erklärt.
Schon im 19. Jahrhundert, als die großen Kanalanlagen gebaut wurden, gab es heftigen Streit ums Abwasser. Aber bei Privatisierungsfragen scheinen die Debatten noch erbitterter – und die Gerichtsverfahren, die sich anschließen, sind kompliziert und langwierig. Ihre Stationen heißen meistens Widerspruch, Klage, Richterspruch, Berufung, Warten, Warten, Warten.
Die Privatisierung
Das Stichwort ist natürlich: Privatisierung. Privatisierung von Abwasser ist fast eine Wissenschaft für sich. „Eine außerordentlich komplexe Materie“, sagt Jens Libbel vom Deutschen Institut für Urbanistik, der gerade einen strategischen Leitfaden für Kommunen vorbereitet. Ob eine Privatisierung vorteilhaft ist, sei eine Frage, die sich „nicht allgemeingültig beantworten lässt. Zumindest nicht seriös“, erklärt Stefan Zahradnik, in Nordhausen Professor für Öffentliche Betriebswirtschaft. Dazu muss man wissen: Kanalentwässerung ist fast überall ein lukratives Geschäft. Es gilt als zukunftssicher, weil es immer Abwasser geben wird. Und eine bessere Einnahmen-Garantie als allgemeine Gebühren kann man sich gar nicht vorstellen. Was daraus folgt? Die einen finden: Nur mit attraktiven Angeboten lassen sich gute Erlöse erzielen, die Schuldenlast drückt – also wird verkauft. Bremen hat das 1999 schon gemacht, und die damals zuständige Senatorin besitzt ein SPD-Parteibuch. Die anderen sagen: Nein, nein, ganz im Gegenteil, das spricht doch gerade dafür, die Chose zu behalten. „Wir schlachten keine Hühner, die goldene Eier legen“, hat zum Beispiel Hamburgs Stadtentwicklungssenator Michael Freytag kürzlich dem Hamburger Abendblatt anvertraut, und die örtlichen Stadtentwässerer haben sich darüber gefreut.
Der Bürgermeister
Michael Freytag ist CDU-Mitglied, genau wie Braunschweigs Oberbürgermeister Gert Hoffmann. Aber Hoffmann ist aus Prinzip für Privatisierung. „Wenn ich früher ins Amt gekommen wäre“, sagt er zum Beispiel, „dann hätten wir längst viel mehr vergeben“. Während er das sagt, sitzt er auf einem hohen Lehnstuhl im holzgetäfelten kleinen Saal des Rathauses und schenkt sich aus einem silbrigen Kännchen sorgsam Kamillentee ein. Strom-, Gas- und Wasserversorgung sind bereits vergeben. Dass viele den Trend zur Privatisierung mit Sorge betrachten, das wisse er wohl. Er, Hoffmann, halte das aber für gut: Der Staat und die Stadt solle sich „aus Aufgaben zurückziehen, die andere besser erledigen können“. Wenn er, also der Staat, seine Kräfte nicht konzentriere, dann würden sie fehlen für „wichtige kommunalpolitische Aufgaben“, Bildung etwa und Kindergärten. Also privatisieren und weiter privatisieren, möglichst gewinnträchtig. „Aber nur“, und während Hoffmann das sagt, fährt sehr zackig der rechte Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger hoch, „unter bestimmten Bedingungen“.
Bei der Abwasserprivatisierung hat sich die Stadt zum Beispiel die Gebührenhoheit gesichert und die Umweltstandards im Vertragswerk fixieren lassen. Man hat auch die Kanalisation nicht verkauft, sondern eher verpachtet, und das Finanzierungskonstrukt heißt Forfaitierung: Die Stadt verpfändet die Gebühren und sichert damit den Kredit des Abwasserdienstleisters. So ungefähr wie die Sowjets früher den Weizen aus den USA bezahlt haben. Tricky, aber legal. Über die Abwasserprivatisierung wird seit 2004 geredet, das Geschäft war europaweit ausgeschrieben. Die Vertragsverhandlungen haben im Sommer 2005 begonnen, unterzeichnet wurde im Spätherbst.
Die Gegner
Seit Sommer 2005 gibt es eine „Bürgerinitiative für den Erhalt öffentlichen Eigentums“. Deren Sprecher Peter Rosenbaum gibt zu: „Wir waren spät dran.“ Dafür sei jetzt die Mobilisierung groß, wie man ja auch vor Gericht hat sehen können. Rosenbaum, grau-melierter Bart, Käppi, Jeans, hat einen federnden Gang und eine elastische Gestik: „Die Stadt gehört nicht mehr uns“, entwirft er ein Szenario der privatisierten Zukunft, „wir haben sie nur noch gemietet. Am Ende sind wir nicht mehr Bürger, sondern Klienten.“ Wichtig ist ihm, dass es das „Wunder von Braunschweig“ nicht gebe. So hatte die FAZ Hoffmanns Schuldenabbau genannt, vorangetrieben vor allem durch Privatisierungen: Von 469 Millionen auf 244 Millionen Euro Ende 2004. Und weiter auf 216 Millionen Ende 2005 – wenn man die Abwassererlöse einrechnet. Ob man das so einfach darf, bezweifelt die BI, bezweifeln auch die Grünen. Es könnte nämlich sein, dass ein Teil des Gewinns an die Gebührenzahler gehen muss. Auch die Kommunalaufsicht scheint da noch nicht entschieden zu haben.
Die Definitionsmacht
Wenn man Hoffmann fragt, ob die Stadt die Privatisierung des Abwassergeschäfts noch rückgängig machen kann, sagt er, das sei ausgeschlossen. Rosenbaum antwortet auf die selbe Frage: „Sie wird es müssen.“ Peter Rosenbaum ist derjenige, gegen den Stadt und Oberbürgermeister gerichtlich vorgehen. Sie verlangen eine Unterlassungsverpflichtungs-Erklärung.
Rosenbaum ist allerdings ein Starrkopf, der schon mal aus der grünen Ratsfraktion ausgeschlossen wurde. Seine Behauptung, die „Privatisierung samt Kreditgeschäft“ sei nicht genehmigt, kann als falsch gewertet werden – weil allein die Finanzierung über das Kreditgeschäft fragwürdig ist, die Privatisierung aber als solche genehmigt war. Letzteres hatte Bürgermeister Hoffmann immer behauptet, aber das Genehmigungsschreiben nicht öffentlich gemacht. Von allzu viel Transparenz hält er ohnehin nichts. „Ich bin den Ratsfraktionen gegenüber Rechenschaft schuldig“, wird er im Gespräch sagen, „muss die Presse informieren – aber doch nicht den Bürger Rosenbaum.“ Der Bürger Rosenbaum steht jetzt vorm Richter und könnte einlenken. Man hätte auch schon eine Vergleichsformel gehabt, aber da zieht er dann doch zurück. „Wir sollen per Justiz mundtot gemacht werden“, appelliert er ans Mitgefühl des Richters, und, ja, wohl auch ein bisschen ans Publikum: „Wenn wir die Gerichtskosten übernehmen müssen, werden wir handlungsunfähig gemacht.“ Und da kommen auch Beifallsbekundungen. Richter Meyer lässt’s geschehen, aber er wird sich an die Paragrafen halten, so viel ist klar.