: Generation Ahmadinedschad
Die Aufregung um die radikale Rhetorik des iranischen Präsidenten verstellt den Blick auf den tief greifenden Generationswechsel in der iranischen Führungsriege seit seiner Wahl
Inzwischen können alle Nachrichtensprecher den Namen des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad einigermaßen flüssig über die Lippen bringen. Mehr noch: Indem er vom „Mythos Holocaust“ schwadronierte und das Existenzrechts Israels in Frage stellte, konnte er sich auf Anhieb in die Hitliste der meistgenannten Politiker katapultieren. Doch die Aufregung um die provokanten Rhetorik des iranischen Präsidenten verstellt den Blick auf einen entscheidenden Wandel im Iran: den Generationswechsel in der iranischen Führungsriege. Posten für Posten besetzte Ahmadinedschad in den letzten Monaten die Spitzen der Ministerien, Universitäten, Banken und der staatlichen Verwaltung bis in die dritte und vierte Reihe mit seinen Leuten. Es sind Männer wie er, die sich in ihrer Jugend für die islamische Revolution begeisterten, aber ihre prägenden Erfahrungen nicht an den theologischen Hochschulen und Medressen, sondern in den Schützengräben und auf den Minenfeldern während des achtjährigen Iran-Irak-Kriegs machten. Es sind Männer, die oft aus armen Verhältnissen stammen und die sich bei den revolutionären Freiwilligentruppen der Basidschi und der Revolutionswächter, in den religiösen Stiftungen und im Geheimdienst hochgearbeitet haben.
Es ist eine Generation von Machern, die das Land in den Griff nimmt. Manche haben sogar an westlichen Universitäten im Ausland studiert und von dort nicht nur Wissen mitgebracht, sondern auch den Ehrgeiz, etwas zu bewirken. Ihr Ziel ist nicht weniger als ein Mentalitätswandel im Iran – weniger Korruption und Selbstbedienung, wie sie in allen Rentierstaaten dieser Welt vorherrscht. Weg von der Erwartung, dass der Ölreichtum auf Ewigkeit für alles aufkommen wird, stattdessen mehr Eigeninitiative, mehr Erfindergeist. Sie fordern eine moralische Erneuerung durch die Rückkehr zu den geistigen Anfängen der Revolution sowie die Modernisierung des Landes durch seinen raschen Anschluss an die moderne Technik und die Methoden der internationalen scientific community.
Es gibt ja auch einiges zu tun im Iran: Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt dreißig Prozent, die Tüchtigsten emigrieren, und in den oberen Kreisen herrschen Korruption und Selbstbedienung. Es gibt einen Mangel an Investitionen und Stillstand in der Politik. Dass die Islamische Republik reif ist für Veränderungen, darüber waren sich Beobachter und Kommentatoren längst einig. Dass der Angriff auf die herrschende Generation alternder Revolutionäre aber nicht im Namen der Liberalisierung geführt wird, sondern im Namen der islamischen Revolution selbst, damit hatte kaum jemand gerechnet.
Davon künden Mahmud Ahmadinedschads Reden, die durchaus missionarische Züge tragen. Dabei hat der Präsident in der Islamischen Republik Iran gar nicht so viel Macht, wie die Aufregung um Ahmadinedschad suggeriert. Sein Amt verleiht ihm keine diktatorischen Befugnisse. Schon sein Vorgänger, der gescheiterte Reformerpräsident Mohammed Chatami, hatte nur zehn Prozent der im Parlament verabschiedeten Gesetzesvorlagen umsetzen können – der Wächterrat, dieses Kontrollgremium, das alle Gesetze und Kandidaten für ein politisches Amt auf ihre Übereinstimmung mit den islamischen Prinzipien überprüft, kassierte von den 50 Gesetzesvorlagen 45.
Ein Ahmadinedschad mag demagogische Reden schwingen. Doch die Richtlinien der Politik bestimmt weiterhin der geistige Führer Ali Chamenei, der auch den Oberbefehl über alle Waffengattungen führt. Im Iran herrscht ein kompliziertes System von checks and balances, das letztlich die Kräfte der Beharrung stärkt. Doch mit einer rigorosen Personalpolitik, die er in seinem Kabinett wie in allen anderen ihm zugänglichen Bereichen konsequent durchsetzt, versucht Ahmadinedschad den festen Kreis des geistlichen Establishments und der politischen Schlüsselfiguren zu durchbrechen und neue Jahrgänge „frommer und revolutionärer Beamte“ an die Macht zu bringen.
Als Beispiel für diese Geisteshaltung mag Hussein Harsidsch, der neue Vizechef der Universität Isfahan gelten. Der Islamwissenschaftler und Politologe hat in Teheran und Australien studiert. Für den 43-Jährigen sind soziale Gerechtigkeit und ein Leben „im Geiste des Islam“ Voraussetzung für den Fortschritt: Wandten sich die Muslime von der Religion ab, wurden sie rückständig und korrupt – so lautet die Lehre, die er aus der 1.500-jährigen Geschichte des Islam zieht. Waren die Muslime hingegen gottesfürchtig und hielten sich an die Vorschriften des Islam, erzielten sie Fortschritte.
Ajatollah Chomeinis Frömmigkeit als Garant von Entwicklung? Der Islam als Leiter des Fortschritts? Für Europäer, die die Aufklärung und die Trennung von Staat und Religion als wesentlichen Anstoß zum freien Denken und damit zur Förderung von Forschung und Wissenschaft betrachten, klingt das wie eine unerhörte Begründung. Doch dieses Zusammenspiel von religiösem Neofundamentalismus und unbedingtem wissenschaftlich-technischem Fortschrittswillen ist kein neues Phänomen: Erneuern und Erstarken, darum kreisen die Gedanken in den muslimischen Gesellschaften seit ihren Erfahrungen der Unterlegenheit dem Westen gegenüber. Und immer liegen zwei Reaktionen miteinander im Streit: Rückkehr zu den eigenen Ursprüngen oder Hingabe an die westliche Moderne. Doch schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es Bestrebungen, die Wiederbelebung des Alten und den Zugriff auf das Neue zu einem kraftvollen Dritten zu verschmelzen.
Für die Generation Ahmadinedschad bedeutet das: Gerechtigkeit, wie sie der Koran fordert, soll an der Universität etwa durch eine Schließung der Lohnschere zwischen Professoren und Angestellten erreicht werden. Und für den Anschluss an die Moderne steht nicht nur die Nuklearforschung, sondern auch der Wille zur Klonforschung. Im Iran gibt es darüber keine öffentlichen Debatten wie im christlich-humanistisch geprägten Europa. Denn alle Möglichkeiten des menschlichen Geistes seien bereits in Gottes Schöpfung angelegt, mithin gottgewollt – das ist zumindest die Argumentation der wissenschaftlich-technischen Elite des Landes, die nach Wegen sucht, Religion und die eigenen nationalen Interessen in Übereinstimmung zu bringen.
Waren die Stichworte des vorigen, im Westen beliebten Präsidenten Mohammed Chatami noch „Demokratie und Zivilgesellschaft“, so sind es jetzt „Gott und Macht“. Und schließlich ist Wissen Macht. Auch in der Frauenfrage, dieser Nagelprobe auf Rückständigkeit, will man das Rad offenbar nicht zurückdrehen. Iran wird keine Abhängigkeiten mehr zulassen, das ist der Grundton der Generation Ahmadinedschad, der mit höchstem Pathos immer wieder angestimmt wird: Imam Chomeini hat das „Land mit der Revolution aus den Ketten des Westens geführt, und wir werden es stark machen“. Heute sagt Ahmadinedschad: „Wir fürchten keine Macht der Welt.“
ELISABETH KINDERLEN