Einmal die Hertha-Hymne, bitte!

FESTIVAL Bei der „Ankunft: Neue Musik“ im Hauptbahnhof vermischen sich Kompositionen von John Cage oder Morton Feldman mit Umweltgeräuschen. Man ist so nah dran am Publikum, dass es sogar Musikwünsche der ganz anderen Art gibt

In die leiseren Passagen mischen sich Bahnhofsgeräusche – ganz im Sinne von John Cage, der die unkontrollierbaren Klänge des Alltags in die Musik integrieren wollte

Bahnhöfe gehören zu den Orten, an denen man in der Regel nur kurz verweilt. Sie sind klassische „Nicht-Orte“, die sich im Grunde in ihrer Funktion erschöpfen, eine Durchgangsstation auf einer längeren Reise zu bilden. Man kann sie zunehmend zwar auch als Einkaufsmöglichkeit zu späterer Stunde nutzen. Wer hier längere Zeit verbringt, tut dies trotzdem meist unfreiwillig. Das Festival „Ankunft: Neue Musik“ bietet in diesen Tagen die Möglichkeit, den Berliner Hauptbahnhof einmal anders kennen zu lernen. Zum fünften Mal schon hat die Zeitgenössische Oper Berlin unter diesem Titel ein Programm zusammengestellt, in dem eine gute Woche lang Neue Musik, Performances und Musiktheater über und unter Gleisen für Abwechslung im Reisealltag sorgen oder Berlinern ohne konkrete Reisepläne einen etwas anderen Konzertsaal präsentieren.

In einer wabenförmigen Konstruktion finden sich eine Bühne und hockerartige Sitze, die einen eigenen Raum in der Bahnhofshalle schaffen, genau an der Stelle, wo die Rolltreppen von der unteren und der oberen Gleisebene aufeinandertreffen. Übersehen kann man die Darbietungen so kaum: Auch ohne stehen zu bleiben, bekommen Reisende zumindest einen flüchtigen Eindruck des Geschehens. Geboten werden anspruchsvolle Werke von Komponisten des 20. Jahrhunderts, darunter John Cage, Morton Feldman, Iannis Xenakis oder Sofia Gubaidulina. Den lokalen Gegebenheiten entsprechend, mischen sich dabei leisere Passagen mit den Bahnhofsgeräuschen. Für die Musik von John Cage sind das ideale Bedingungen, schließlich wollte der rabiate Klangbefreier die unkontrollierbaren Klänge des Alltags als gestaltendes Element in die Musik integrieren. Bei anderen Werken ist es Geschmackssache, ob die Kombination gelungen ist oder nicht. Grundsätzlich könnte man sogar fragen, ob es nicht viel eher im Sinne von Cage wäre, einfach ein paar Stühle hinzustellen, damit aufgeschlossene Besucher bewusst die Soundscape des Bahnhofs als Musikerfahrung erleben können.

Im Konzert des Projekts „Elektronisches Glück“ am späten Samstagabend spielen diese Fragen keine Rolle. Die Instrumente, Computer, Flöte und Posaune, sind elektrisch verstärkt und so laut, dass man nicht einmal die einfahrenden Züge hört. Eine Reihe von Zuhörern scheint sich eigens für das Konzert eingefunden zu haben, da kaum Publikum mit Gepäck zu sehen ist. Immer wieder kommen Neugierige von den Rolltreppen, bleiben kurz stehen oder gesellen sich für eine Weile hinzu. Manche Passanten interpretieren den Auftritt sogar als Aufforderung, das Angebot um eigene Vorschläge zu bereichern. So versucht ein Fußballfan verzweifelt, das Trio zu bewegen, für ihn die Hymne des Hertha BSC zu spielen. Dieser Wunsch blieb ihm allerdings verwehrt: Vielleicht hatten die Musiker Frank Zanders „Nur nach Hause“ nach der Melodie von Rod Stewarts „Sailing“ einfach nicht im Repertoire.

TIM CASPAR BOEHME

■ „Ankunft: Neue Musik“, Hauptbahnhof, bis 7. September, Programm unter: ohrenstrand.de