: Toter Briefkasten im Netz
INTERNET Die Veröffentlichung des Irak-Videos beim Enthüllungsportal Wikileaks zeigt: Digitale Alternativmedien sind ihrer etablierten Konkurrenz zunehmend gewachsen
VON DANIEL SCHULZ
Was die internationale Nachrichtenagentur Reuters nicht vermochte, schaffte die Webseite Wikileaks: ein Video zu veröffentlichen, das zeigt, wie der Bordschütze eines US-Kampfhubschraubers in Bagdad eine Gruppe Zivilisten mit seiner 30-mm-Kanone niedermäht. Grundlos, das belegt der mitgeschnittene Funkverkehr.
An jenem 12. Juli 2007 starben auch zwei Reuters-Mitarbeiter, der Fotograf Namir Noor Eldeen und sein Assistent Said Chmagh, sie wollten in der irakischen Hauptstadt fotografieren. Seit ihrem Tod hat Reuters herauszubekommen versucht, was mit den beiden passiert ist. Das Militär mauerte, schickte nach eigenen Angaben Material – nur das Video war nicht dabei. Das blutige Rätsel löste nun Wikileaks – eine Internetseite, auf der prinzipiell jeder Dokumente veröffentlichen lassen kann, wenn das Wikileaks-Team sie für relevant genug hält. Dieser Fall macht deutlich: Digitale Alternativmedien können mit der etablierten Konkurrenz mithalten.
Bisher gilt für die Mehrheit der mit klassischen Medien aufgewachsenen LeserInnen und MacherInnen das Diktum: Das Internet liefert Meinung, das Papier die Fakten. Nach dieser Weltsicht vermögen digitale Publizisten nur das zu diskutieren, was Zeitungen und Rundfunk ausgraben. Spätestens der neueste Wikileaks-Coup zeigt, wie unhaltbar diese Ansicht ist.
Alternative Internetmedien – also nicht die Online-Ableger klassischer Medien wie Spiegel Online oder taz.de – sind längst ein wichtiger Taktgeber des Nachrichtenbetriebs. Schon länger gibt es unter den Alternativen wiederum meist spezialisierte Leitmedien, die auf ihren Gebieten mitbestimmen, wo es langgeht.
Wer in Deutschland über Rechtsextremismus berichtet, sollte auf NPD-Blog.info schauen. Wer über Datenschutz schreibt, der liest Netzpolitik.org. Für das Publikum von Zeitung und Rundfunk ist diese Relevanz leider nicht immer zu erkennen. RedakteurInnen geben andere Medien ungern als Quelle an, weil sie nicht als AbschreiberInnen gelten wollen. Das verschleiert die Wichtigkeit der digitalen Alternativen, weil so gut wie jeder trotz dieser Leugnungen weiß, dass der Spiegel existiert. Bei vielen Internetportalen ist das noch nicht der Fall.
Internationale Scoops wie die Veröffentlichung des Irak-Videos landen die digitalen Alternativen allerdings noch immer selten. Und wenn, dann war es oft Wikileaks: Die Seite hat beispielsweise im Juli 2009 ein internes Dokument der isländischen Kaupthing-Bank veröffentlicht, das zeigte, wie das Institut mitten in der Finanzkrise von seinen Eigentümern geplündert wurde. Im Dezember 2007 publizierte Wikileaks eine interne Richtlinie der US-Armee, laut der Guantánamo-Gefangene vor dem Roten Kreuz versteckt wurden.
Wikileaks betreibt einen großen Aufwand, damit InformantInnen ohne Gefahr für Job oder Leben dort brisante Daten veröffentlichen können. Die Wikileaks-Server stehen in mehr als zwölf Ländern, bekannt ist nur die Einstiegsadresse. Eine Software tarnt alle dorthin versendeten Dokumente mit Verschlüsselungen, die nach Aussage der zumeist anonym bleibenden Macher auch geheimdienstlichen Knackversuchen standhält. Es soll nicht zu unterscheiden sein, welche der vielen eingehenden Daten Brisantes enthalten und welche Müll. Wer einen Absender enttarnen wolle, müsste also eine riesige Menge an Bytes entschlüsseln, um überhaupt etwas zu finden, sagt der in Island lebende Wikileaks-Mitbegründer Julian Assange. Er ist der Einzige aus dem Team, der seine Identität preisgibt.
Doch all die Mühe und der Erfolg von Wikileaks können über eines nicht hinwegtäuschen: Die Durchschlagskraft der digitalen Alternativmedien hat Grenzen. Was von klassischen Medien nicht weitertransportiert wird, nimmt die Mehrheit der Menschen nicht wahr. Beim digitalen toten Briefkasten Wikileaks fristen viele Dokumente ein trauriges Dasein in Ignoranz. Grund: Kaum eine Redaktion gibt Geld dafür aus, solche Mengen an Material zu sichten, die nicht exklusiv sind. Die Offenheit der Daten sorgt paradoxerweise dafür, dass sie verborgen bleiben.