: Ellipsen als Politikersatz
RHETORIK Wenn sie redet, spart Angela Merkel nicht Satzteile oder Wörter aus, aber den Sinn der Politik selbst
■ Es war einer der überraschenden Momente beim TV-Duell. SPD-Kandidat Peer Steinbrück erklärte, es sei ungerecht, wenn die Pensionen der Beamten weiterhin stärker stiegen als die Renten der Arbeiter und Angestellten. Konkrete Pläne oder Zahlen nannte er hierzu nicht. Kanzlerin Angela Merkel stieg voll ein: Betroffen seien „Menschen, die ein sehr kleines Gehalt haben, und die müssen jetzt schon mal aufmerksam bei der SPD noch mal nachfragen, was da in Planung ist, denn diese Pensionen werden versteuert, das ist auch anders, als das bei der Rente ist“, sagte sie. Das war entweder absichtlich gelogen oder Produkt eines Gedächtnisverlusts. Denn im Jahr 2005 wurde die Besteuerung eines stetig wachsenden Teils der gesetzlichen Renten eingeführt. Dies ging auf ein Verfassungsgerichtsurteil von 2002 zurück, das die Gleichbehandlung von Renten und Pensionen in der Besteuerung verlangte. Darüber hinaus aber ist es zumindest irreführend zu behaupten, Beamte hätten „ein sehr kleines Gehalt“. Denn der viel zitierte „kleine Beamte“ im „einfachen Dienst“ mit bis zu 2.000 Euro Sold pro Monat stellt kaum noch ein Prozent von Deutschlands knapp zwei Millionen BeamtInnen. Mit bezuschusster Privatversicherung und Zulagen aber verdienen alle anderen BeamtInnen mehr, zum größten Teil viel mehr als der Durchschnittsbeschäftigte mit seinen rund 2.500 Euro brutto. ULRIKE WINKELMANN
VON HANS HÜTT
„Aus dem Stillstand rauskommen.“ Peer Steinbrücks Antwort auf Maybrit Illners Eingangsfrage, warum er nicht von einer Welle der Empörung ins Kanzleramt getragen werde, wirkt wie ein Wellenbrecher.
Er eröffnet das Duell mit einem Schlusswort. An den Anfang setzt er das Ende eines Politikmodells, das das Gefühl des Stillstands als Erfolg verkauft. Unser Neobiedermeier aber genießt den Stillstand in vollen Zügen. Wenn draußen, fern in der Türkei, die Fetzen fliegen, wen kümmert das? Stillstand schreibt Herr Biedermeier ins politische Pflichtenheft. Der Wandel schleiche sich bitte unter der Nachtmütze heran. Unmerklich.
Das ist Angela Merkels Verdienst, der Erfolg ihres Sorgetragens. Das Sorgetragen ist die modernste Variante des Dezisionismus. Es scheint Abstand zu nehmen von organisierten Interessen und ihrer Macht. Es erweckt den Eindruck von Umsicht. Es neutralisiert Widerstand. Es erstickt Opposition. Das Sorgetragen ist der Unsichtbarkeitsmantel alternativloser Politik.
So war das auch an dem denkwürdigen Sonntagabend vor fünf Jahren, als die Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Finanzminister eine Garantieerklärung für deutsche Sparer abgaben. Beide verbindet mehr, als sie im Wahlkampf zugeben dürfen. Sie tragen beide Blau. Sie tragen beide Sorge. Sie bringen das ganz unterschiedlich auf den Punkt.
In Steinbrücks eröffnender Schlussansprache steckt viel drin. Bloß kann sich das keiner merken. Schon gar nicht diese zappeligen Moderatoren. So geht der furiose Vortrieb des Schlussworts zu Beginn verloren.
Die Kanzlerin wehrt Steinbrücks Attacken durch Tricks ab. Einen hat sie erkennbar geübt: Ihr ungläubiger Blick von unten nach oben ist eine Figur aus dem Fundus des Volkstheaters. Merkel steht da wie Liesl Karlstadt.
■ Minute 52, Peer Steinbrück (SPD) wirft Angela Merkel (CDU) vor, die Aufstockung der Rente für Mütter mit Kindern, die vor 1992 geboren wurden, zu verschleppen. Merkel kontert: Bis jetzt habe man nichts getan, weil vor drei bis vier Jahren in der gesetzlichen Rentenkasse noch nicht der nötige Puffer dafür existiert habe. Das sei nun anders. Soll wohl heißen: In der nächsten Legislatur bekommen auch Mütter mit einem älteren Kind nicht nur einen Rentenpunkt gutgeschrieben (rund 28 Euro Rente im Monat), sondern zumindest zwei oder gar drei Entgeltpunkte, wie es für Mütter mit jüngeren Kindern schon Realität ist. Finanziert ist davon allerdings noch nichts: eine allgemeine Aufstockung um einen Rentenpunkt würde jährlich 6,5 Milliarden Euro mehr kosten. Die Zuschüsse, die der Bund derzeit für Kindererziehungszeiten an die Rentenkasse abführt, fallen zwar höher aus, als die Rentenkasse aktuell für solche Leistungen auszahlt. Aber nur, weil ein großer Teil der betreffenden Mütter noch nicht in Rente ist. Der Bund geht für die Zukunft in Vorleistung, und in der Berechnung der Mittel ist die jetzt diskutierte Angleichung nicht eingepreist. Ergo: Ohne neue Steuerzuschüsse geht es nicht, vor allem weil Schwarz-Gelb beständig den Rentenbeitrag senkt – und noch mehr Senkungen verspricht. Das nennt man auf Sicht fahren. Oder konsequent die Rentenkasse ausbluten lassen. EVA VÖLPEL
Den Anfang aber vergeigt auch sie. „Wir werden im Jahr 2015 in einem Lager, in einer Lage sein, wo wir keine Schulden mehr machen.“ Das mit dem Lager hat niemand gemerkt. Der für die Merkel-Syntax zuständige Autopilot hat rechtzeitig eingegriffen. Merkels Autopilot kann endlose Satzkaskaden mit Finalsätzen basteln, denen die politische Finalität fehlt.
Die Bundeskanzlerin überzieht durch ihr Sorgentragen alles, was einen Unterschied ausmachen könnte, mit einem Firnis unbestimmter Gemeinsamkeit. Stefan Raabs erste Frage zielte genau darauf: ob denn, wenn sie den Wahlomat gebraucht, am Ende auch CDU rauskommt.
Bei Merkel kann nur CDU rauskommen, weil sie in den entleerten Programmkörper ihrer Partei alle guten Ideen der Konkurrenz hineingepackt hat, aber erst nachdem sie ihnen die Zähne gezogen hat.
Wie sie das macht? Durch das Sorgetragen. Das Sorgetragen ist eine Figur, die politische Verantwortung aus der Schusslinie nimmt. Die Figur verspricht nichts. Sie zeigt eine Haltung, die für nichts in Haftung genommen werden kann. An der Figur des Sorgetragens prallt jede Kritik ab. Sie panzert und entwaffnet zugleich, hält die Räume offen auch für waghalsige Wendemanöver. Das Sorgetragen immunisiert das Durchsetzen politischer Interessen gegen Kritik. Manchmal führt das Sorgetragen unter dem syntaktischen Autopilot Angela Merkels zu unfreiwilliger Komik. Dann entsteht so ein Satz wie „Wir müssen was für den Fachkräftemangel tun.“
Merkel kann ganze Satzkaskaden fast wie im Leerlauf abspulen. Ihre Sprache ist aus Vorsatz und mit Bedacht ungenau. Ganz anders Steinbrück. Pointiert und zugespitzt argumentiert er. Warum hat er Angela Merkels Lieblingsfigur in den eigenen Wortschatz übernommen? Ist das ein Vermächtnis aus der Traumpaarzeit der Großen Koalition? Das Sorgetragen steckt an. Auch Steinbrück trägt Sorge, macht das aber kämpferischer, im Duell sogar gut. Dann kommt wieder Merkels Liesl-Karlstadt-Blick. Und die Attacke geht ins Leere.
„Geht einmal euren Phrasen nach bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden“, schreibt Georg Büchner in „Dantons Tod“. Das Verkörpern ist Merkels Sache nicht. Das ginge zu weit. Das überlässt sie dramatischen Sängern auf großen Bühnen. Sie beobachtet das und transplantiert es durchs Sorgetragen entschärft ins politische Gefecht.
■ Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) behauptete im TV-Duell: „Durch Leiharbeit sind viele Menschen in Beschäftigung gekommen“. Das stimmt nur bedingt, denn die Leiharbeit hat erstens reguläre Arbeitsplätze verdrängt, zweitens sind die Beschäftigungsphasen oft nur kurz und drittens werden die LeiharbeiterInnen nur sehr selten vom entleihenden Unternehmen fest übernommen. Nach einer Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ist die Zahl der Zeitarbeitsplätze im vergangenen Jahrzehnt zwar deutlich gestiegen, die Hälfte dieses Zuwachses aber ging auf Kosten der regulären Beschäftigung, die durch Leiharbeitsplätze verdrängt wurde. Der „Klebeeffekt“ wiederum, durch den Zeitarbeiter in der entleihenden Firma fest angestellt werden, ist eher gering, so das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsförderung. Danach wurden nur 7 Prozent der Leiharbeiter unmittelbar nach der Zeitarbeitsphase fest im Unternehmen eingestellt. Von allen Leiharbeitern, die jemals in dem Unternehmen beschäftigt waren, schafften es dort nur 14 Prozent in eine Festanstellung. Die Hälfte der Leiharbeitsverhältnisse dauern nicht mal drei Monate, auch Fachkräfte verdienen in der Zeitarbeit in der Regel erheblich weniger als Festangestellte im Unternehmen. Jeder zehnte Zeitarbeiter muss sein Einkommen durch Hartz-Leistungen aufstocken. BARBARA DRIBBUSCH
So weit gekommen fällt der Blick des Zuschauers auf die ominöse Halskette der Kanzlerin. Es sind nicht die in falscher Reihung auftauchenden Nationalfarben, das Rotgoldschwarzweiß, es ist ihre Form, die eine beiläufige Einsicht beschert. Merkel befolgt, wahrscheinlich unbeabsichtigt, eine dramaturgische Idee Bertolt Brechts, etwas müsse nur gut genug versteckt sein, um auch wirklich entdeckt zu werden. Die Kettenglieder haben die Form einer lanzettartig schmalen Ellipse. Sie gleichen einem Olivenbaumblatt. Nur sind die grün, von einem silberweißlichen Grün. Merkel gibt mit der Kette ihrem Dechiffriersyndikat ein Zeichen.
Denn in ihrem Maschinenraum des Politischen formt Merkel Ellipsen. In der Linguistik bezeichnet eine Ellipse das Auslassen von Satzteilen. Merkel formt politische Ellipsen. Auch sie spart etwas aus, allerdings nicht Satzteile oder Wörter. Sie spart den Sinn der Politik selbst aus. So nimmt sie aus dem Duell heraus, was den Eindruck eines Kampfes erwecken könnte. Wer seine Politik alternativlos nennt, verzichtet darauf, den Geltungsanspruch der Macht zu begründen.
Der Herausforderer hat im Duell kämpferisch attackiert. Merkel ließ ihn ins Leere laufen. Das tut der Politik nicht gut, ist Merkel aber erkennbar egal.