: Klaus-Dieter, verstehst du mich?
Die Störung des Plans von der Störung: Das Theater Thikwa spielt „Regen“ nach Jean Genets Einakter „Neger“
Der energische Kollege Krause (Roland Strehlke) ist wahrlich nicht zu beneiden. Schweißtreibend ackert er auf der Bühne an der Entfaltung einer Inszenierungsidee, und niemand im Ensemble des Thikwa-Theaters dankt’s ihm. Im Gegenteil: Eine stimmgewaltige Sängerin (Robin Lyn Gooch) muss abgemahnt werden, weil sie beim Stichwort „Auferstehung“ wie auf Knopfdruck die DDR-Nationalhymne „Auferstanden aus Ruinen“ anstimmt. Der Kollege Klaus-Dieter (Paul Sonderegger) fällt leider schon zum wiederholten Mal aus allen Rollen. Die Blumenverkäuferin (Janette Lange) veräußert ihren Charme in außerplanmäßigen Flirts mit dem Publikum; plötzlich singen und trommeln alle „Afrika, tausend heiße Feuer“.
Herr Krause trägt seinen Vornamen Jean mit den ehrgeizigsten Absichten. Er hat sich nämlich Jean Genets Einakter „Die Neger“ vorgenommen, und dieses Stück bezieht seine Pointen aus der beständigen Störung eines Aufführungsplans. Unter den Augen eines weiß maskierten Hofstaates vollzieht eine Gruppe Schwarzer ein mysteriöses Opferritual: Man versammelt sich um einen Katafalk, auf dem angeblich die Leiche einer von Schwarzen ermordeten weißen Frau liegt, und spielt den Mord allabendlich neu – überwacht von einem strengen Zeremonienmeister (Torsten Holzapfel). Dessen Job ist allerdings nicht weniger aussichtslos als der des Kollegen Krause, sieht doch Genets Text die Widerstände der Ritualteilnehmer schon voraus: Während der Erste zur kontraproduktiven Überidentifikation neigt, mäkelt der Zweite fortwährend am Inhalt und der Dritte an der Besetzungspolitik. Und so wie die Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit kollabiert auch die zwischen Schwarz und Weiß, Herr und Knecht, Täter und Opfer demonstrativ in diesen vielfachen Spiegelungen, die aufzudröseln vermutlich ganzen Generationen dissertationswilliger Geisteswissenschaftler Stoff böte.
Der Regisseur Werner Gerber hat diese Bewegung in seiner Inszenierung mit dem programmatisch rückwärts buchstabierten Titel „Regen“ noch verstärkt: Das Spiel im Spiel bekommt durch das Thikwa-Ensemble noch eine dritte Ebene: „Wir spielen, um uns darin zu spiegeln, Klaus-Dieter, verstehst du mich?“, ruft der Regisseur-Darsteller Krause und nimmt damit auch gleich allen altklugen Genet-Exegeten den Wind aus den Segeln.
Ein plausibler Ansatz: Im Thikwa-Ensemble, das hier erstmals auf seiner gemeinsam mit dem English Theatre neu eröffneten Bühne in der Fidicinstraße steht, spielen seit mehr als zehn Jahren geistig und körperlich behinderte Schauspieler zusammen mit Nichtbehinderten. Dass Genets „Neger“ sich hier in den aufgrund ihrer Behinderungen Ausgegrenzten spiegeln, ist mehr als eine bloße gesellschaftspolitische Botschaft: Da die Grenze zwischen Privatheit und Spiel, zwischen Text und Improvisation, Authentizität und Rolle für das Publikum hier ungleich schwerer zu durchschauen ist, bekommt dieser auf den Kopf gestellte Genet tatsächlich eine bemerkenswerte Kraft. Darüber hinaus erweisen sich die Thikwa-Akteure ganz beiläufig als sanfte Rebellen gegen das ermüdende gesellschaftliche Klischee-Repertoire: So unverbrauchte Liebesszenen wie die zwischen der ätherischen Frau im Rollstuhl (Martina Nitz) und ihrem gehbehinderten Partner (Tim Petersen) sieht man selten. Nicht zuletzt ist dieser „Regen“ einfach eine spielfreudig den Gesetzen der Assoziation folgende Revue. CHRISTINE WAHL
F 40, Fidicinstraße 40, Kreuzberg, 30. 3.–2. 4. und 6.–9. 4., 20 Uhr