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Archiv-Artikel

Wenn die Sonne finster wird

Werden die düsteren Männer zurückkommen, um tausendundeinmal zu kassieren?

Meine Freundin Christiane hatte mich zu einem ganz dringenden Gespräch in ihre Mansarde gebeten. Ich war etwas beunruhigt, denn meist bedeutet es nichts Gutes, wenn Christiane mich zu sich vorlädt. Nun saß ich schon seit einer halben Stunde beinahe regungslos in ihrem Zimmer und nippte nur ab und zu an dem Eistee, den sie mir eingeschenkt hatte. Christiane starrte unbewegt aus dem Kippfenster gen Himmel. Es war ein einigermaßen angenehmer Frühlingsmorgen, doch Christiane schien nichts wahrzunehmen.

Nach einiger Zeit, als mir das Schweigen zwischen uns schon fast unerträglich wurde, regte sich Christiane endlich. Sie wandte mir ihr Gesicht zu, aber ihr Blick schien weit, weit entfernt. Ihre Augen waren glasig, und der Ausdruck hatte etwas Geisterhaftes. Dann wandte sie sich wieder dem Fenster zu und sagte mit beinahe tonloser Stimme, die mich gruselte: „Gut, dass diese Sonnenfinsternis weit, weit von uns entfernt ist. Wäre sie näher an uns dran, dann würde es womöglich zu einer Katastrophe kommen …“

Ich hatte schon diverse Male miterleben müssen, wie sich Christiane durch Ereignisse jedwelcher Art beeindrucken ließ, aber dass sie sich von einer Sonnenfinsternis in der Türkei bedroht fühlen konnte, das wunderte mich schon sehr. Daher antwortete ich so aufmunternd, wie ich nur konnte: „Christiane, die Sonnenfinsternis ist so unendlich weit von uns weg, du wirst sie nicht mal bemerken – da passiert schon nichts.“

Plötzlich veränderte sich Christiane in Sekundenschnelle. Aus dem abwesenden, bedrückt wirkenden Geschöpf wurde schlagartig eine fröhlich kichernde junge Frau mit klarem, offenem Blick, die mit strahlendem Gesicht Eistee nachschenkte und mir einen Ellbogenpuffer versetzte. „Nun sieh das mal alles nicht so ernst“, sagte sie zu mir. Auch solche Verwandlungen hatte ich an ihr schon öfters beobachtet, und sie ließen mich stets mit einer Mischung aus Schauer, Entsetzen, Unverständnis und Ärger zurück.

Christiane blickte mich lange an und fragte dann: „Sag mal: Bist du eigentlich eher für die Sonnenfinsternis in der Türkei, oder bist du eher dagegen?“ Ich wusste nicht sofort, was ich ihr darauf antworten sollte, denn ich hatte mir darüber noch keinerlei Gedanken gemacht. Ich tat nun so, als würde ich ernsthaft nachdenken, indem ich meinen Kopf schief legte und so weise wie möglich „Hm …“ raunte. Christiane bohrte nach: „Du findest also nicht, dass diese Sonnenfinsternis in der Türkei eine Sonnenfinsternis des Humanismus ist? Ein Schatten vor dem EU-Beitritt der Türkei?“

Ich verschluckte mich fast am Eistee, das war zu viel, wo hatte sie das nur her? Christiane las keine Zeitungen, in der sie vielleicht eine dementsprechende Karikatur gesehen haben könnte, außer mir hatte sie auch keinerlei Freunde oder Kontakte, und auch wir waren meist zerstritten. Christiane beschäftigte sich nicht mit der Welt da draußen, alles, was Christiane seit Jahren tat, war, für ihre Prüfung zur Beleuchtungsmeisterin zu büffeln. Wie also kam sie auf solche Phrasen, und was hatte sie mit dieser verdammten Sonnenfinsternis zu tun? „Christiane, was hast du denn mit dieser verdammten Sonnenfinsternis zu tun?“, rief ich voller Besorgnis aus!

Plötzlich hatte Christiane wieder diesen verschwörerischen Blick, den ich schon einmal an ihr gesehen hatte … Mir wurde ganz flau im Magen. „Christiane“, fragte ich sie eindringlich, „du hast dich doch nicht schon wieder auf irgendeinen dubiosen Handel eingelassen?“ Nur zu frisch war meine Erinnerung an Christianes seltsame Geschäfte mit der Hannover-Kalender-Mafia … Christiane erwog mit zusammengezogenen Augenbrauen, ob sie mich in ihr Geheimnis einweihen sollte oder nicht und entschied sich dann dafür: „Gestern klingelten zwei Männer bei mir“, erzählte sie mit gedämpfter Stimme, „Denen gab ich 100 Euro.“ Mir sträubten sich die Haare. „Wofür?“, fragte ich. „Sie sagten, wenn die Sonnenfinsternis hier bei uns nicht stattfindet, dann bekomme ich die 100 Euro von ihnen tausendundeinmal zurück, wenn aber doch, dann muss ich es denen tausendundeinmal zurückgeben und ein Zeitungsabo kaufen.“ Ich blickte sie entgeistert an und fragte: „Hast du die Adresse von denen oder sonst irgendwas?“ Christiane schüttelte den Kopf. „Aber die haben gesagt, sie kommen wieder!“ Gespannt sah ich aus dem Fenster … CORINNA STEGEMANN