: Tiefer Argwohn gegen den großen Bruder
MOSKAU taz | Er sei von dem Umsturz in Kirgisien „überrascht“ worden, meinte Russlands Premier Wladimir Putin in einem Telefonat mit der selbst ernannten Übergangspräsidentin Rosa Otunbajewa in Bischkek. Moskau habe bei dem Umsturz seine Finger nicht im Spiel gehabt, versicherte Putin eilig und bot der Exaußenministerin „humanitäre Hilfe“ an.
Seit dem Einmarsch russischer Truppen in Georgien 2008 hat das Ansehen Russlands auch in den zentralasiatischen Republiken erheblichen Schaden genommen. Russische Bemühungen, in den postsowjetischen Staaten wieder die alleinige Führungsrolle zu übernehmen, werden von den Zentralasiaten eher misstrauisch verfolgt. Moskau betrachtet die ehemaligen sowjetischen Republiken nach wie vor als sein „nahes Ausland“. Damit unterstreicht es den Anspruch einer eigenen Führungsrolle und die Forderung an die anderen Mächte, sich aus der Region herauszuhalten.
In Kirgisien war es dem Kreml 2009 beinahe gelungen, seine dominante Rolle zurückzuerobern. Der kirgisische Präsident Kurmanbek Bakijew ordnete im Februar an, die US-Militärbasis in Manas zu schließen. Die US-Armee nutzt den Luftwaffenstützpunkt nahe bei Bischkek als Nachschubbasis für die Nato-Truppen in Afghanistan.
Moskau ist die militärische Präsenz der USA in Zentralasien ein Dorn im Auge. Für die Schließung von Manas stellte der Kreml Kirgisien 2 Milliarden Dollar Finanzhilfe in Aussicht, 150 Millionen davon als zinsloses Darlehen. Gleichzeitig unterzeichneten Präsident Dmitri Medwedjew und Bakijew ein Memorandum, das die weitere Stationierung russischer Truppen und die Errichtung einer neuen Luftwaffenbasis vorsah.
Die Finanzhilfen fror Moskau ein. Denn Bakijew ließ den US-Stützpunkt nicht schließen, sondern nur in „Transitstation“ umbenennen und kassierte Nutzungsgebühren auch von den Amerikanern. Seither haben sich die Beziehungen zum Kreml verschlechtert. Auch den Versuch Russlands, durch gemeinsame Wirtschafts- und Infrastrukturprojekte in Kirgisien wieder als zentrale Ordnungsmacht Fuß zu fassen, blockt Bischkek ab. Für dieselben Projekte bemühte sich Kirgisien um Unterstützung beim Nachbarn China.
Russland will seine Vormachtstellung zurückerobern, doch ihm fehlt neben ökonomischen Ressourcen vor allem eine ausgefeilte Strategie zur Entwicklung der Region. Langfristig werden die zentralasiatischen Staaten enger mit China, möglicherweise auch mit der EU kooperieren.
Erst im letzten Jahr stieg Usbekistan aus der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft wieder aus, nachdem die EU Sanktionen gegen Taschkent gelockert hatte. Es war auch Usbekistan, das über eine Verstärkung russischer Militärpräsenz in Kirgisien stark verunsichert war. Der Argwohn sitzt tief, Moskau könnte ethnische Konflikte und Grenzstreitigkeiten in der Region wieder für eigene Interessen ausschlachten.
KLAUS-HELGE DONATH