TROPISCHE HITZE
: Das lebende Buch

Alle Biecher sind tot, vollkommen, aber das chier läbt

Kreuzberg ist ausgestorben. Die Luft ist abgestanden, und ein fauliger Geruch dringt aus den Gullys. Vor dem Rizz herrschen Leere und Stille. Aber nicht mehr lange. Sie wird gut gefüllt von vier Männern und einem Jungen, die eine mir unbekannte Sprache sprechen, aber auch Deutsch mit schepperndem Akzent. Zwei sind sehr umfangreich, aber trotzdem von geschmeidiger Beweglichkeit. Sie haben beide kurzärmlige, gebügelte weiße Hemden an und dazu eine dunkle Anzugshose. Der eine redet, der andere nicht. Einer der Jüngeren ist Anfang zwanzig und spricht ins Handy: „Sie haben angerufen? Wann sollen wir abholen Teppich.“ Der Dicke, der sich als Chef entpuppt, sagt: „Chib här das Täläfon!“ Der Junge reicht es ihm. „Was chaben Sie für eine Täppich? Afghane? Perser? Indär? Sähen Sie! Wir müsse ärst chucke. Darf ich Ihnen eine Frage stellen?“ Er wartet nicht ab, ob er darf, sondern spricht gleich weiter. „Ist Teppich verschmutzt stark? Wir chaben fünf Stufen. Fier Reinigung. Kein Problem. Wir kommen. Wir sagen Ihnen, wieviel chostet, Sie chönnen sagen, ob einverstanden!“

Der Chef legt auf und nimmt eine ältere Dame ins Visier, die einsam am Nebentisch ein Buch liest. „Värehrte Frau. Kennen Sie das läbende Buch? Alle Biecher sind tot, vollkommen, aber das chier läbt. Ich läse immer in där Bibel und immer gut fier mich, denn der Härr Chesus Christus ist fier uns gästorbän.“ Die Frau ist christlich und ganz einverstanden. Sie sagt: „Jaja, wenn sich nur jeder die Bibel mehr zu Herzen nehmen würde, dann gäbe es keine Kriege mehr.“ Der Dicke begreift diesen Einwand als Einmischung in seine Belange und als Zweifel. „Biecher sind alle tot, chlauben Sie mir, verährte Dame, aber das hier ist läbändig“, wiederholt er, als wolle er eine Ungläubige bekehren. Und warum nicht? Schließlich hat er sie gerade dabei ertappt, wie sie ein totes Buch gelesen hat.

KLAUS BITTERMANN