: „Das Nebeneinander ist toll“
COME TOGETHER Clärchens Ballhaus ist ein demokratischer Ort, an dem niemand ausgeschlossen wird, meint die Tanzwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter
■ ist Theater-, Tanz- und Literaturwissenschaftlerin und Professorin mit Schwerpunkt Tanz am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin.
INTERVIEW SUSANNE MESSMER
taz: Frau Brandstetter, nächste Woche wird Clärchens Ballhaus hundert Jahre alt. Was ist das Besondere an diesem Ort?
Gabriele Brandstetter: Ich finde, es geht schon damit los, dass das Ballhaus am 13. September 1913 eröffnet wurde. Sich einfach über so eine Unglückszahl hinwegzusetzen: Das ist grandios. Da ja Ballhäuser gerade in jener Zeit Skandalorte waren, scheint mir die Wahl dieses Datums kein reiner Zufall zu sein, sondern auch ein Akt von Aufmüpfigkeit.
Waren die Ballhäuser damals schon Orte, an denen sexuelle Libertinage gelebt wurde?
Das war tatsächlich einer der Hauptgründe, warum man dahin ging. 1913 kam in Europa der Tango an. Aber auch das sogenannte freie Schwofen versprach eine ganz neue Körperfreiheit. Gerade in Berlin gehörte es dazu, dass auch in den Ballhäusern Frauen miteinander tanzten – und zwar nicht verschämt, sondern provokant.
Liegt man richtig, wenn man die Standardtänze eher prüde findet und das freie Tanzen eher befreiend?
Nein. Nehmen wir zum Beispiel den Walzer, der nie aus der Mode kommt und auch in Clärchens Ballhaus noch viel getanzt wird. Schon Goethe hat festgestellt, dass der Walzer ein Rauschtanz ist. Sein Reiz ist der Schwindel – dass man gemeinsam immer wieder ausbalancieren muss. Der Walzer ist erotisch total aufgeladen. Deshalb stand man ihm anfangs zwiespältig gegenüber.
Wie ist es möglich, dass in Clärchens Ballhaus beide Konzepte gleichzeitig funktionieren: der Paartanz und das „Hotten“?
Dieses Nebeneinander ist in Clärchens Ballhaus etwas sehr Besonderes. Es gibt die Möglichkeit des Körperkontakts, und das scheint mir Ausdruck eines großen Wunschs zu sein in einer Zeit, in der wir viele virtuelle Beziehungen pflegen. Gleichzeitig kann man im freien Tanz für sich bleiben: als Ausdruck von Individualismus einerseits, als Ausdrucks einer Auflösung des Selbst in der Masse andererseits. Das Tolle an Clärchens Ballhaus ist, dass keiner ausgeschlossen wird, nur weil er das eine oder das andere bevorzugt.
Gibt es an diesem Ort überhaupt etwas, das die Menschen voneinander trennt?
Im Ballhaus kommen Menschen auf eine Art miteinander in Kontakt, die sehr viel weniger ideologisch aufgeladen ist als im Alltag. Man muss sich ja nur den Stadtteil ansehen, in dem Clärchens Ballhaus steht: Berlin-Mitte. Hier dividiert sich alles zunehmend auseinander. Aber in Clärchens Ballhaus geht es eben darum, ob mir der Stil meines Tanzpartners behagt, ob unsere Bewegungen harmonieren. Seine Herkunft ist mir in diesem Moment egal.
Eine Insel der Demokratie?
In Clärchens Ballhaus haben sich immer Schichten, Klassen und Generationen getroffen. Das scheint mir auch deshalb interessant, weil Fragen des Alters in unserer Gesellschaft immer wichtiger werden. In den Clubs fühlt man sich ja schon sehr früh zu alt. Allein wegen der Lautstärke, die Unterhaltungen unmöglich macht.
Warum gibt es dann in Berlin nicht viel mehr Ballhäuser?
Meine Prognose ist, dass das Bedürfnis nach solchen Orten wachsen wird.
Weshalb suchen so viele im Ballhaus eine Ersatzfamilie?
Ich kannte einen amerikanischen Tänzer, der schon lang in Berlin lebte. Er erzählte mir, er habe einmal in Clärchens Ballhaus mit einer Frau Tango getanzt und sie habe so ideal zu seinen Bewegungen gepasst, dass er immer wieder mit diesem Bild vor Augen dort tanzen geht. Für ihn ist das Ballhaus ein Erinnerungsraum geworden, der ein großes Versprechen aufrechterhält. Das Ballhaus ist also nicht nur ein gemütliches Zuhause, sondern auch eine ganz andere Art von Heimat. Dort darf ein Begehren schwingen, das sonst in unserem Leben kaum Platz hat.
Demenzkranke gehen im Ballhaus tanzen. Sind Erinnerungen an sinnliche Erfahrungen intensiver als abstrakte?
Es ist wirklich fast wie bei den berühmten Madeleines von Marcel Proust. Die Sinne helfen erinnern – ob das nun ein Geschmack oder eine Bewegung ist. Sie helfen, sich wieder im Alltag zurechtzufinden. Tanzen kann Teil einer kinästhetischen Therapie sein. Man trainiert das Gleichgewicht, die Orientierung. Das kann lebenserhaltend sein.