: Studieren zu viele?JA
Werdegang Bald gehen mehr junge Deutsche auf die Hochschule als in den Betrieb
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Julian Nida-Rümelin, 59, ist Philosophieprofessor an der LMU München
Die Frage ist nicht, ob wir jetzt zu viele Akademiker haben, sondern ob der aktuelle Trend in die Zukunft fortgesetzt werden sollte. Meine These ist, dass sich ein Land wie Deutschland einen massiven Einbruch im Bereich der Ausbildungsberufe nicht leisten kann. Mit 30 Prozent eines Jahrgangs wäre der Weg in die Deindustrialisierung Deutschlands nach britischem Muster vorgezeichnet. Eine Kopie des US-Bildungssystems würde Deutschland nicht guttun. Fehlende Fachkenntnis und der Zwang zum learning-on-the-job sind die häufig kritisierten Folgen auf dem Arbeitsmarkt in den Vereinigten Staaten. In dieser Hinsicht ist Nachahmung nicht empfohlen. Stattdessen sollten wir die verbliebenen Vorteile des deutschen Bildungswesens ausbauen. Die Verbindung von Ausbildung im Beruf mit staatlicher Berufsschule und Fachkompetenzen in Schule und Studium.
Karlheinz Töchterle, 64, ist Minister für Wissenschaft und Forschung in Österreich
Ich freue mich über jeden Studierenden, aber gerade deshalb dürfen wir nicht in einen „Akademisierungswahn“ verfallen. Wenn die Universität, wie vor 200 Jahren erfolgreich initiiert, ein Ort der Einheit von Forschung und Lehre bleiben soll, geht das nur mit einer begrenzten Zahl dafür Geeigneter. Nicht alle Absolventen taugen für die besonders kognitiv ausgerichteten Universitätsstudien. Unser spezifisches duales Bildungswesen, mit sekundären und postsekundären Einrichtungen, zeichnet sich durch eine besondere Stärke in der Berufsbildung aus. Wir sollten dessen Ergebnis, nämlich exzellente Facharbeiter, mehr wertschätzen, anstatt oberflächlichen internationalen Statistiken hinterherzuhecheln.
Markus Kiss, 43, ist Ausbildungsreferent beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag
Unternehmen brauchen Facharbeiter ebenso wie akademische Fachkräfte. Allerdings gibt es inzwischen ein Ungleichgewicht. Die Hörsäle an den Universitäten sind überfüllt, den Betrieben fehlen Auszubildende. Inzwischen gibt es mit rund 500.000 Menschen fast so viele Erstsemester wie Ausbildungsanfänger. Aber nicht jeder ist mit einem Studium auf der Erfolgsspur. Rund 25 Prozent der Studienanfänger brechen ab. Der Trend zur Akademisierung um jeden Preis muss gestoppt werden. Die Industrie- und Handelskammer will mit den Hochschulen und Arbeitsagenturen Studienabbrechern den Umstieg in eine duale Ausbildung erleichtern. Denn Karriere ist nicht nur durch ein Studium möglich.
Sebastian Weitsch hat unseren Streit auf Facebook kommentiert
Ich habe vier Jahre meines Lebens damit verschwendet, zur Universität zu gehen. Zwei Studiengänge habe ich angefangen und abgebrochen, Statistik und Elektrotechnik. Erst dann wurde mir klar, dass ich wohl doch besser eine Berufsausbildung machen sollte. Jetzt bin ich sehr glücklich in meiner Ausbildung zum Automobilkaufmann. Ich denke, nicht die Universität ist das Hauptproblem. Es ist aber mittlerweile in Deutschland zu einfach, Abitur zu bekommen. Als Abiturient war es für mich ein Traum, auf die Uni zu kommen und keinerlei Verpflichtungen mehr zu haben. Das war auch der Grund, warum das Studium mich geschafft hat und nicht ich das Studium. Die Zahl der Studienabbrecher wird in den nächsten Jahren rapide steigen und immer mehr gescheiterte Studierende werden in eine Ausbildung gehen. Ich freue mich, meine Ausbildung im nächsten Jahr mit einem sehr guten Ergebnis abzuschließen, und will mich dann hocharbeiten.
NEIN
Yasemin Karakasoglu, 48, ist Bildungsexpertin im Team von SPD-Kanzlerkandidat Steinbrück
Das große Interesse junger Menschen an einer akademischen Ausbildung ist zunächst einmal nicht nur erfreulich, sondern auch rational. Ein Studienabschluss eröffnet heute die besten Chancen für eine Berufseinmündung, geringe Arbeitslosigkeit und höhere Löhne. Dabei besteht aber kein Zweifel, dass wir ebenso akademische wie beruflich ausgebildete Fachkräfte brauchen für die Sicherung von Wohlstand und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Statt die akademische und berufliche Ausbildung gegeneinander auszuspielen, müssen wir über eine Berufsausbildungsgarantie jungen Menschen echte Perspektiven auch jenseits der akademischen Ausbildung bieten. Außerdem müssen wir flexiblere und bessere Übergänge zwischen den beiden Systemen ermöglichen und sowohl die duale Berufsausbildung wie auch die Hochschulen in ihrer Ausbildungsfunktion stärken.
Johanna Wanka, 62, leitet das Bundesministerium für Bildung und Forschung
Wir brauchen beides – eine gute akademische und berufliche Bildung. Der akademische Abschluss gilt nach wie vor als beste Absicherung gegen Arbeitslosigkeit. Deshalb werden wir weiter in Studienplätze und gute Studienbedingungen investieren. Obwohl immer mehr junge Menschen in Deutschland an die Hochschulen gehen, liegt die Studienanfängerquote unter dem OECD-Durchschnitt. Das liegt auch an der Attraktivität der dualen Ausbildung, sie gilt inzwischen als wichtiger Grund für unsere niedrige Jugendarbeitslosigkeit. Deshalb brauchen wir Durchlässigkeit. Es muss leichter werden, vom Beruf an die Hochschule zu wechseln. Umgekehrt müssen Leistungen von Studienabbrechern besser anerkannt werden, wenn sie anschließend eine Ausbildung machen.
Andreas Schleicher, 49, ist Bildungsforscher und Entwickler der Pisa-Studie
Schon vor 100 Jahren sorgten sich Leute, dass bald mehr als die Hälfte der jungen Menschen die Schule besuchen würden. Heute gibt’s die gleiche Diskussion bei den Studierenden. Das beste Maß für den Bedarf an Hochschulabsolventen sind aber nicht politisch motivierte Quoten, sondern Erträge am Arbeitsmarkt. Fakt ist, dass ein Hochschulabsolvent in Deutschland im Arbeitsleben durchschnittlich 74 Prozent mehr verdient als jemand mit Sekundarabschluss und Lehre. Daran werden sich junge Menschen orientieren. Klar ist, dass Studierende von Professoren mehr Angebot und Kreativität bei den Lehrmethoden erwarten. Darauf müssen die Unis reagieren. Und vielleicht erkennt man dann, dass die Trennung zwischen akademischer Ausbildung und praktischer Berufsausbildung nicht mehr zeitgemäß ist.
Katharina Mahrt, 33, ist Studierendenvertreterin an der Uni Rostock
Die Angst der Bildungseliten um ihre Elfenbeintürme verkennt die Realität: Im kommenden Semester werden wieder Zehntausende nicht im Wunschfach studieren können. Fraglich ist daher nicht, ob zu viele studieren, sondern ob das Studium allen Interessierten offensteht. Die Nebelkerze des „Akademisierungswahns“ ignoriert die Undurchlässigkeit unseres Bildungssystems. Die soziale Selektion derjenigen, welche es an die Hochschulen schaffen, beginnt in Kita und Schule. Von 100 Akademikerkindern beginnen 77 ein Studium, aber nur 23, deren Eltern keinen Hochschulabschluss haben. Die chronische Unterfinanzierung der Unis führt zu immer mehr Einschränkungen der Studienplätze. Eine partizipatorische Gesellschaft braucht freie Bildungdungssysteme für alle.