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Archiv-Artikel

Rückwärts laufen, um neu anzukommen

Mit dem Lone Twin Theatre beginnt in den Sophiensælen eine Suche nach neuen Erzählformen. Das englische Performer-Duo Lone Twin, das sonst der Kunst zuliebe gerne stundenlang zu Fuß unterwegs ist, erzählt diesmal in knapp 90 Minuten zehn Jahre aus dem Leben von „Alice Bell“

Vollbärte und Hemdsärmel gelten nicht als Insignien zeitgenössischer Regie-Avantgarde, aber solche Zeichensysteme kümmern Lone Twin wenig. Wer für eine Performance zwölf Stunden lang zwischen Reisigbündeln im Line-Dance-Schritt läuft („Ghostdance“) oder dick eingepackt bis zur Erschöpfung in der Kälte umherspringt, nur damit im Augenblick des Entkleidens eine kleine Wolke in der Luft hängt, interessiert sich für andere Dinge.

Dem englischen Performance-Duo Lone Twin war es selten wichtig, was man sieht; wichtig ist, was bei der Arbeit entsteht. So eine selbst gemacht Wolke zum Beispiel, die den Körper als Kraftwerk vorstellt und das eigene Oevre als Teil des globalen Klimawandels. Oder, nach zwölf Stunden Line Dance, zwei Männer im Delirium. Bewegung, Wiederholung und Zeit sind Grundkomponenten der Arbeit von Gary Winters und Gregg Whelan, die sich selbst gern pedestrians, Fußgänger, nennen. Der deutsche Begriff „Wanderer“ passt besser, und wie zwei leicht deplatzierte Wanderer sitzen sie nun auch mit ihren Bärten und Regencapes in einem Café am Hackeschen Markt.

In Berlin sind sie seit zwei Wochen, um mit ihrer Produktion „Alice Bell“ die neue Produktionsplattform „Telling Time“ an den Sophiensælen zu eröffnen. „Telling Time“ ist ein Artist-in-Residence-Programm, das internationale Theatermacher einlädt, neue Erzählformen zu entwickeln und vorzustellen – erst hier, dann bei verschiedenen europäischen Koproduzenten. Für Lone Twin ist dies nach neun Jahren Zusammenarbeit eine Premiere eigener Art: Erstmals treten Winters und Whelan nicht als Duo auf, sondern als Regisseure einer kleinen Gruppe, dem Lone Twin Theatre. Und, entscheidender noch, diesmal entsteht das narrative Element ihrer Arbeit nicht als Nebenprodukt einer konkreten Tätigkeit vor Ort – sondern „Alice Bell“ erzählt eine richtige Geschichte.

Eine einfache Geschichte erzählen, noch dazu über die Liebe; nicht in 12 oder 36 Stunden, sondern in 90 Minuten; nicht am Fluss oder auf der Straße spielen, sondern im Theater – man könnte meinen, die Wanderer laufen rückwärts just dorthin, wo andere ihren Ausgangspunkt nehmen. „Ja“, bestätigt Gregg Whelan unbeirrt, wie das nur ein Brite kann, „ich habe zeitgenössisches Theater gesehen. Was wir jetzt machen, sieht dem tatsächlich ähnlich.“

Geradezu naiv freuen sich die Jungs nun über die Möglichkeiten der Black Box – „Man kann Lichtwechsel einplanen!“ –, die ihnen bisherige Auftrittsorte versagten. Was eine gute Story ausmacht, habe sie unterdessen ihre Arbeit an 107 Folgen eines TV-Kinderprogramms gelehrt: „Ein Protagonist, ein Konflikt, seine Lösung und im besten Fall eine überraschende Wende.“ Dieses Modell haben sie auch für „Alice Bell“ angewandt.

Das Stück basiert auf Michael Ondaatjes Roman „In der Haut eines Löwen“. Gemeinsam mit den Schauspielern wurde er diskutiert, immer wieder nacherzählt und dabei auf die Figur der Alice reduziert. Alice ist eine fast klassisch tragische Heldin: geboren in einer geteilten Stadt, in einen Konflikt hinein, der größer ist als sie, gibt sie ihr Leben für einen Widersacher, um die Hoffnung auf gewaltfreien Widerstand nicht sterben zu lassen. Zehn Jahre ihres Lebens werden auf der Bühne erzählt, wobei „erzählt“ tatsächlich ein treffenderer Begriff ist als „verkörpert“.

Dass das Endprodukt zu sehr nach zeitgenössischem Theater aussehe, braucht aber niemand zu fürchten; zum einen sind die Schauspieler in Wirklichkeit eine bunte Künstlergruppe ganz unterschiedlicher Herkunft von Fotografie bis Songwriting, und außerdem, so Gary Winters, „ignorieren wir mit Freuden jeden historischen Theaterkontext“.

Gleiches gilt vermutlich auch für die anderen. „Telling Time“-Künstler: Der Bulgare Krassimir Terziev zeigt einen Dokumentarfilm über die Statisten hinter Brad Pit in „Troja“, Siegmar Zacharias untersucht mit fear_lab Techniken der Angst sowie „Wirkungen, die Gründe schaffen“, und der französische Elektrobastler Paul Granjon verfolgt den Ehrgeiz, die Welt der Technik von ihrer nutzlosesten Seite zu zeigen. Was sicher eine ihrer schönsten ist.

CHRISTIANE KÜHL

„Alice Bell“, bis 2. 4., 20 Uhr, Sophiensæle. „Telling Time“ läuft bis zum 9. 4. Infos: www.sophiensaele.com