Flinke Londoner Jungs

Arsenal London gewinnt das Hinspiel im Viertelfinale der Champions League mit 2:0 gegen Juventus Turin. Der italienische Meister hat dem Tempo der Engländer nichts entgegenzusetzen

AUS LONDON RAPHAEL HONIGSTEIN

„Guten Tag!“, sagte Robert Pires zu den Journalisten, als Mitternacht nicht mehr fern war. „Ich meine natürlich Guten Abend“, korrigierte sich der Franzose schnell, „es tut mir Leid. Ich bin so müde.“ Ja, man kann schon mal durcheinander geraten, wenn so schnell gespielt wird, dass die Uhr nicht mehr mitkommt, Pires erging es da im Highbury nicht viel anders als der „alten Dame“ aus Turin, die von den flinken Londoner Jungs unversehens bis aufs Nachthemd ausgezogen worden war.

Wenige Minuten vor dem Ende waren Mauro Camoranesi und Jonathan Zebina ob der eigenen Blöße gar so beschämt gewesen, dass sie sich vorzeitig in die Umkleide schicken ließen – beide werden Juventus nach ihren dummen roten Karten im Rückspiel fehlen, ebenso wie der unglückliche Patrick Vieira, der gegen seinen 18-jährigen Nachfolger, den überragenden Cesc Fabregas, kein Land und dann noch die gelbe Karte sah. Er ist im Rückspiel gesperrt.

Vielleicht ist es besser so für ihn. Vieira, der langjährige Arsenal-Kapitän, wurde bei seiner Rückkehr mit Sprechchören gefeiert. Lange hielt er sich in den Zweikämpfen zurück. Ob es die Angst vor der Verwarnung war oder eine ungewollte Rücksicht auf die alten Kameraden, war nicht zu eruieren. Seine 1,91 Meter wirkten jedenfalls hinterher ganz klein im Regen, er schlich traurig an den Mikros in der Mixed Zone vorbei. Beim kunstvoll, clever, am Ende schlichtweg begeisternd herausgespielten 2:0-Sieg der jungen Gunners hatte er nur als Opfer eine Hauptrolle gespielt. Es war eine Szene in der 40. Minute gewesen, die so unwirklich anmutete, dass man bei Arsenal später viele Witze darüber machte.

Ausgerechnet Pires, der leichtfüßige Techniker, jagte Vieira am Mittelkreis mit einer eingesprungenen Grätsche den Ball ab und leitete damit den Treffer von Fabregas ein. „In meiner ganzen Karriere habe ich noch nie so einen Zweikampf gewonnen“, grinste Pires; für Kollege Thierry Henry war die gelungene Aktion nicht weniger als das „Symbol des Spiels“. Nicht nur Pires’ überraschende Kampfkraft war symptomatisch für das unheimlich geschlossene, disziplinierte Auftreten der Londoner, seine Geistesgewandtheit war es auch. Ein Bundesligist hätte den gewonnen Ball erst mal zurück zur Abwehr gespielt – ruhig von hinten aufbauen, nichts überstürzen, keine Hektik. Pires aber suchte und bediente Henry sofort, und der wiederum erspähte den blitzschnell vorgepreschten Fabregas. Juve-Verteidiger Lilian Thuram, einer der Besten seines Fachs, fand sich auf dem Hosenboden wieder, bevor die Kugel im Netz einschlug. In der zweiten Hälfte zogen die Hausherren jenes sagenhafte flotte Direktspiel auf, das vor zwei, drei Jahren die ganze Welt verzückte. „Die europäischen Mannschaften sind unser Tempo nicht gewohnt“, sagte Jens Lehmann, „und wir profitieren davon, dass die Schiedsrichter weniger durchgehen lassen als in der Liga.“ Das zweite, wunderbare Tor von Henry (69.) fiel zwangsläufig; Trainer Arsène Wenger durfte sich ärgern: „Ein Tor mehr wäre noch drin gewesen.“

Der Franzose hat diese Saison ein wenig Abstand von seinen Prinzipien genommen und auf fünf Mann im Mittelfeld umgestellt. Das half der blutjungen Viererkette, den Zu-null-Rekord vom AC Milan einzustellen: sieben Champions-League-Partien in Folge ohne Gegentor. „Es ist eine Überraschung, wie gut die Jungs das machen“, sagte Lehmann, „aber auch ein Zeichen der Qualität. In Zukunft wird man diese Jungs unter den Besten auf ihren Positionen finden.“ Das gilt für den Deutschen schon heute – mehr als je zuvor.

Dass sein aktives, vorausschauendes Spiel den Nachwuchsakteuren Sicherheit gibt, war deutlich zu spüren. Mögliche Parallelen zur Situation der Nationalelf dürften Jürgen Klinsmann nicht entgangen sein. Am Dienstag kam Juventus mit seinen unerträglich behäbigen, schematischen Angriffchen nicht ein Mal gefährlich vor das Tor. „0:2 war ein gutes Ergebnis dafür, wie wir in der zweiten Hälfte gespielt haben“, bilanzierte Fabio Capello nüchtern. Noch ist nichts vorbei. Aber man muss sich nicht mehr groß wundern, falls die Londoner Jungspunde nach den Galacticos auch die Juve früh ins Bett schicken sollten – und darauf die Nacht wieder zum Tag machen.