: Musik-Zirkus zum Anfassen
John Cage zertrümmert die Europeras-Oper in Aachen: Gesangesstücke werden wild gemischt und frei zusammengesetzt, die Zuschauer in die Foyers verbannt. Auf Sinnhaftigkeit wird verzichtet
AUS AACHENFRIEDER REININGHAUS
Ende 1987 fand die Frankfurter Oper zweimal überregional große Beachtung. Das eine Mal, als ein Obdachloser sich nachts in den Verwaltungsräumen einquartierte und, da ihn fröstelte, mit dem ausreichend vorhandenen Papier für etwas Wärme zu sorgen suchte; bei dieser Gelegenheit ruinierte er das in hellen Flammen aufgehende Anwesen bis auf die Grundmauern. Der andere Anlass für gesteigerte Aufmerksamkeit war ein künstlerischer Dekonstruktions-Event: die Uraufführung der „Europeras 1 & 2“ von John Cage (1912-1972). Konservative Kritiker (wie Joachim Kaiser) argwöhnten, die gute alte europäische Oper solle da verschlissen und verballhornt werden. Und sie hatten keineswegs Unrecht: Cage wollte etwas, das er nach eigenem Bekunden nie ernsthaft zur Kenntnis genommen und für abgetan erklärt hatte, „neu umbrechen“ und so neue Hör- und Sehgewohnheiten installieren.
Der New Yorker Dekomponist und passionierte Pilz-Sammler hatte aus den Stimmen von rund 60 älteren (und mithin urheberrechtlich „freien“) Opern die Partien einzelner Sing- oder Orchester-Stimmen ausgeschnitten und nach dem Zufallsprinzip neu montiert. Die „Handlung“ wurde (nur für die Packungsbeilage im Programmbuch!) aus klassischen Libretti zusammenkompiliert, so dass sich da (imaginär) „Er“ in „Sie“ verliebt ist, ohne erhört zu werden, Amfortas auf Papageno trifft, Pedrillo und die Traviata aneinander geraten etc. Der Dirigent, der dem antiautoritär gestimmten John Cage allzeit besonders ein Dorn im Auge war, wurde abgeschafft und durch Digital-Anzeigen ersetzt, die den Ablauf steuerten und das wohl abgeschmeckte Opern-Ragout portionierten. Die Ausstattung des auf alle „Handlung“ und höhere Sinnhaftigkeit verzichtenden Abends stammte aus dem Fundus.
Im Theater Aachen wurde der bunte, allerdings von inzwischen etwas ranzig schmeckendem Altherrenhumor gewürzte Blattsalat neu arrangiert. Volker Straebel und Regisseur Ludger Engels versetzten die von Cage stationär angelegte Kunst-Darlegung unter Mitberücksichtigung des Cageschen „Music Circus“ in Bewegung (denn das „Europeras“-Original war ja, das hatten sie zutreffend erkannt, gebannt in „Zuschauerraum, Orchestergraben und Guckkastenbühne“). Sie erwogen, was Cage möglicherweise selbst unternommen hätte, „wenn er nach Aachen gekommen wäre und dort eine neue Version entwickelt hätte“. Engels ließ im ganzen Haus (bis hin zu den Duschen) vorführen, was die einzelnen Mitwirkenden einer Musiktheaterproduktion en détail zu bieten haben: Sänger, Instrumentalisten und Bühnenarbeiter waren in einem wohl inszenierten Wandelkonzert hautnah bei der konzentrierten Arbeit zu erleben. Und animierten ein neugieriges, teilweise auffallend junges Publikum auf eine vermutlich nicht nur in Aachen unkonventionelle Weise.
Ohne auf das ins Theater strömende Publikum zu reagieren, empfingen ein Pianist, der Brahms & Co. aus dem Flügel quellen ließ, und zwei „Plattenspieler“-DJs mit alten Schellack-Platten. Auf der Bühne und im Graben dann zunächst eine Annäherung an die von Cage ursprünglich intendierte Montage-Kunst. Doch bald schon werden die Zuschauer wieder in die Foyers verbannt. Erst für die Schlussrunde dürfen sie wieder auf die weichen Sessel zurückkehren. Vor den Theken konnte man sich zerstreuen und anregen lassen von „Musikern zum Anfassen“ (also z.B. der Harfe in Aktion ganz nahe kommen) – oder gewahr werden, wie technisch anspruchsvoll selbst eine Viola-Stimme von Jacques Offenbachs „La Périchole“ ist. Im Sinn des Vorführens des Einzelnen funktioniert die hausausgreifende Klangaktion in etwa wie Prokofjews „Peter und der Wolf“.
Ob mit dem Unternehmen allerdings Cage heute „neu gehört“ und „wahrgenommen“ wird, lässt sich in Frage stellen. Denn bedeutete das, was Cage da vor zwei Jahrzehnten mit „Europeras“ entworfen hat, nicht auch Kulturimperialismus auf leisen Sohlen? Cage erklärte das europäische Erbe für „erledigt“, zertrümmerte es und organisiert es neu – ganz nach seinen Regeln. Und die bedeuten gegenüber dem, was ein umsichtiger Dirigent treibt, keineswegs „Befreiung“, sondern – das lässt sich an den angestrengten Gesichtern der Musiker ablesen – durchaus Strapazierung im Sinne perfektionierter „kapitalistischer“ Produktionsweise. Dass die Karajan-Büste, die an die Nazi-Zeit des Aachener Theaters erinnert, in den Eingangsbereich verbannt wurde, gehört zu den delikaten Nebeneffekten.