: Regierender im Wartestand
KANDIDAT Jan Stöß galt als aussichtsreicher Anwärter auf die Nachfolge von Klaus Wowereit. Nun ist der Regierende Bürgermeister wieder in Tritt gekommen und die Debatte verklungen. Doch der SPD-Chef kann warten – je mehr Zeit vergeht, desto größere Chancen hat er
VON UWE RADA
Vielleicht ist das Café Moskau der beste Ort, sich auf die Schultern zu klopfen. Schick saniert ist das ehemalige Nationalitätenrestaurant aus DDR-Zeiten in der Nähe des Alexanderplatzes. Die Fassade macht was her. Wen interessiert da schon, wie es hinter den Kulissen aussieht.
In ebendieses Café Moskau lädt der SPD-Landesvorsitzende Jan Stöß Ende August zum Sommerempfang des Landesvorstands, obwohl es eigentlich nichts zu feiern gibt: Nicht auszuschließen, dass die Sozialdemokraten ihr mieses Bundestagswahlergebnis von 2009 mit 20,2 Prozent am 22. September noch mal unterbieten.
Doch Jan Stöß lässt sich die gute Laune nicht verderben. Im Garten des Café Moskau, in dem die Sozialdemokraten bei Weißwein und Bier ein wenig verschnaufen vom Wahlkampfendspurt, tritt er ans Mikrofon und streichelt die Genossenseelen. „Hellersdorf macht uns alle betroffen. Für diese Proteste gegen das Flüchtlingsheim schämen wir uns“, sagt er. „Doch Berlin ist und bleibt eine weltoffene und tolerante Stadt.“
Kein Wort zu den jüngsten Umfragen, die die SPD am 22. September bei 19 Prozent sehen. Kein Wort über den Streit mit der CDU, die ihre ablehnende Haltung zum Volksentscheid des Energietisches im Abgeordnetenhaus und im Senat durchsetzte. Kein Wort auch über Klaus Wowereit, der erst spät am Abend zum SPD-Volk stößt und zuvor im Bunde mit der CDU die SPD-Linke in der Energiefrage auflaufen ließ. Jan Stöß hält es mit der Kanzlerin: Auch die ignoriert ihren Kontrahenten.
Als Klaus Wowereit nach Weihnachten von der neuerlichen Verschiebung des BER-Eröffnungstermins erfahren hatte, war er einen Moment nah dran hinzuschmeißen. Zu groß war der Imageschaden. Mit dem Flughafen hatte auch Berlins so populärer Wowibär eine Bruchlandung erlitten.
Auch wenn sich Wowereit bald wieder berappelte, war damit die Nachfolgedebatte eröffnet. Dilek Kolat, die Arbeitssenatorin, galt als Kandidatin, ein wenig auch Stadtentwicklungssenator Michael Müller, und dann natürlich die beiden neuen starken Männer der Berliner SPD: Raed Saleh, der Fraktionsvorsitzende, und Jan Stöß, der Landeschef.
Acht Monate später ist klar: Klaus Wowereit ist nicht zurückgetreten. Inzwischen ist sogar von einem „Comeback“ des Regierenden die Rede. Mehr noch: Wowereit, der am 1. Oktober 60 Jahre alt wird, überlegt sogar, auch für die Abgeordnetenhauswahl 2016 erneut als Spitzenkandidat anzutreten. Ob oder ob nicht, das will er den Gremien seiner Partei erst Ende 2015 erklären. Die Botschaft ist deutlich: Es gibt in der Berliner SPD keine Nachfolgedebatte. Entnervt über Wowereits neuerlichen Frühling bemerkt ein Genosse im Café Moskau: „Wenn der Gegner fehlt, werden die Kämpfer müde.“
Wer Jan Stöß bei seinem Sommerfest erlebt, hat freilich nicht den Eindruck, dass er über Wowereits Auferstehung allzu unglücklich ist. „Stöß hat Zeit“, erklärt ein Vertrauter und gibt zu bedenken, dass ein früher Start auch hätte missglücken können. „So aber kann er sich profilieren.“ Tatsächlich wäre Jan Stöß bei den Abgeordnetenhauswahlen 2016 erst 43 Jahre alt. Als Klaus Wowereit 2001 zum Regierenden Bürgermeister gewählt wurde, war er fünf Jahre älter.
Ohnehin ist die Karriere des Berufsrichters steil wie sonst kaum eine in der Berliner SPD. Als die Bild-Zeitung im Januar 2012 mitten hinein in die Klausurtagung der SPD-Fraktion in Rostock die Nachricht platzen ließ, Stöß kandidiere gegen den damaligen Landes- und Fraktionsvorsitzenden Michael Müller um das Amt an der Parteispitze, guckten einige ungläubig. Stöß? Den kennt doch keiner.
Gelungener Putsch
Tatsächlich war Stöß bis dahin vor allem in Friedrichshain-Kreuzberg bekannt: als Finanzstadtrat unter dem grünen Bürgermeister Franz Schulz und als junger Kreisvorsitzender des traditionell linken Kreisverbands.
Bald aber wurde deutlich, dass Stöß die Unzufriedenheit in der Berliner SPD über das Führungsduo Wowereit/Müller geschickt auszunutzen wusste. Den Parteirechten versprach er aussichtsreiche Plätze in der SPD-Landesliste für die Bundestagswahl, und auch die zur politischen Mitte zählenden Kreisverbände Mitte und Reinickendorf wusste Stöß geschickt einzubinden.
Als am 9. Juni 2012 der neue Landesvorstand gewählt wurde, blieben Müller nur noch die Kreisverbände Charlottenburg-Wilmersdorf und Tempelhof-Schöneberg treu. Stöß siegte mit 123 zu 101 Stimmen, der parteiinterne Putsch war gelungen. Jan Stöß war nun – wie Matthias Platzeck oder Hannelore Kraft – Chef einer Landes-SPD.
Unterstützung hatte Stöß auch von Raed Saleh erfahren, dem Vorsitzenden des linken Kreisverbands Spandau, der bereits im Dezember 2011 Michael Müller in seiner anderen Position abgelöst hatte – als Chef der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Auf Wowereits Bruch mit den rot-grünen Koalitionsverhandlungen nach der Wahl 2011 und seiner Entscheidung für ein Bündnis mit der CDU reagierten die Genossen an der Spree also mit einem Linksruck. Und mit einer Verschiebung des politischen Gleichgewichts – weg vom Senat und hin zur Fraktion und zum Landesvorstand. Jan Stöß sagte es einmal so: „Wir wollen, dass die Partei in der Koalition als eigenständige Kraft wahrgenommen wird.“ Salehs Part dabei: Zusammen mit dem CDU-Fraktionschef Florian Graf macht er dem Senat Tempo.
Inzwischen aber ist die linke Übernahme der Berliner SPD ins Stocken geraten. Nicht nur, dass Klaus Wowereit keinen Hehl daraus macht, dass ihm ein landeseigenes Stadtwerk, das der Energietisch im Volksentscheid durchsetzen will, schnuppe ist. Auch das Selbstverständnis der SPD als Mieterpartei ist ihm egal. Vor zwei Wochen ärgerte der Regierende seine Genossen, als er jungen Wohnungssuchenden riet, eine Eigentumswohnung zu kaufen. „Wer die Macht in der Partei hat, bestimmt halt noch lange nicht, was der Senat beschließt“, sagt ein führender Sozialdemokrat im Café Moskau.
Dennoch lässt sich Jan Stöß vom Comeback und den Sticheleien des Klaus Wowereit nicht aus der Ruhe bringen. Das hat auch damit zu tun, dass aus dem ursprünglichen Vierkampf um seine Nachfolge zwischenzeitlich ein Zweikampf geworden war. Müller wäre ohnehin nur ein Kandidat für eine Übergangszeit gewesen, hätte Wowereit im Januar seinen Rücktritt erklärt. Dilek Kolat schließlich hat genug Mühe, ihre Politik und ihren Haushalt dem Finanzsenator zu erklären. Als mögliche Regierungschefin, heißt es, fehle ihr das Format. Blieben also Stöß und Saleh.
Doch auch dieser Zweikampf könnte bald Geschichte sein. Bestimmte zu Beginn Saleh die Schlagzeilen, setzt inzwischen der Landesvorsitzende die Akzente. Die Landesliste seiner Partei für die Bundestagswahl hat er gestrickt. Und auch als Wohnungspolitiker hat er sich profiliert – unter anderem mit der Forderung, die Freifläche zwischen Marienkirche und Rotem Rathaus zu „reurbanisieren“. Das hat ihn zwar bei den Fachpolitikern der SPD und der Architektenschaft, die den Freiraum am Fernsehturm lieber erhalten wollen, nicht gerade beliebt gemacht. Sein Signal in Sachen „Wiederaufbau der Berliner Altstadt“ ging aber auch an die CDU. Falls Wowereit beim Comeback die Puste ausgehen sollte, hat sich Stöß schon mal CDU-anschlussfähig gezeigt.
Hinzu kam eine mediale Debatte um die Fähigkeiten Salehs. Ausgerechnet die Süddeutsche Zeitung hatte im Frühjahr den Akzent des gebürtigen Palästinensers aus dem Westjordanland thematisiert – und damit eine Debatte losgetreten. Selbst in der SPD hieß es plötzlich: „Wie soll denn ein Araber im Ostteil der Stadt wählbar sein? Und was sagen die Türken dazu?“
Die Stuttgarter Zeitung wiederum zitierte einen, der Saleh angeblich nahe steht: „Er kann es einfach noch nicht. Seine Sprache, das hält kein Zuschauer in einer Talkshow aus.“ Im Umfeld von Jan Stöß will man das natürlich nicht kommentieren. Ein wirklicher Konkurrent, heißt es, sei Saleh aber nicht mehr.
Jan Stöß, der Landesvorsitzende, könnte sich also genüsslich zurücklehnen und warten. Wäre da nicht die Bundestagswahl und angesichts der Umfragewerte ein mögliches neues Tief für die Sozialdemokraten. Im Landesvorstand spielt man das Thema herunter. „Legt die SPD zu, dann heißt der Gewinner Peer Steinbrück. Verliert die SPD, heißt der Verlierer ebenfalls Peer Steinbrück.“ Landesthemen stünden am 22. September schließlich nicht zur Wahl.
Selbst dem Termin des Energie-Volksentscheids am 3. November kann Jan Stöß beruhigt entgegensehen. Stimmen die Wähler für ein landeseigenes Stadtwerk und Netz, kann er auf sein Werben für die Rekommunalisierung verweisen – die am Widerstand der CDU und Klaus Wowereit scheiterte. Scheitert dagegen der Volksentscheid, hat sich die Senatsmeinung durchgesetzt, die Stöß, ganz loyal natürlich, offiziell vertritt.
In einem aber hat sich der Regierende Bürgermeister im Wartestand festgelegt: Die Mieten- und Wohnungspolitik soll in den kommenden Jahren zum Prüfstein für die Glaubwürdigkeit sozialdemokratischer Politik werden. Nicht nur für den Wohnungsbau am Roten Rathaus setzt sich Stöß deswegen ein, sondern auch für bezahlbare Wohnungen auf dem Tempelhofer Feld. Sollte sich in einem weiteren möglichen Volksentscheid die Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner für „hundert Prozent Tempelhof“ aussprechen, wäre das auch eine persönliche Niederlage des Jan Stöß.
Dennoch: Es gibt schlechtere Aussichten im politischen Betrieb der Hauptstadt als jene des SPD-Landesvorsitzenden. Das einzige, was Stöß noch ärgern könnte, wäre ein Klaus Wowereit, der 2015 den dritten Frühling erlebt und sich 2016 noch einmal ins Wahlkampfgetümmel werfen will. Aber auch dann weiß Stöß: Zwei oder drei Jahre später käme seine Stunde. Dass sich Wowereit nämlich, wie seine früheren Amtskollegen in Brandenburg oder Rheinland-Pfalz, seinen Nachfolger selbst aussuchen kann, gilt in Berlin als ausgeschlossen. „In dem Moment, in dem Wowereit seinen Rückzug erklärt“, sagt ein Genosse beim Sommerabend des Jan Stöß im Café Moskau, „hat er Dinge nicht mehr in der Hand.“
Gut möglich also, dass die Berliner SPD im Herbst 2016 mit Jan Stöß als Spitzenkandidat ins Rennen geht. Um seine Wahl zum Regierungschef müsste er sich dabei nicht sorgen. Anders als Klaus Wowereit kann Stöß mit den Grünen ebenso wie mit der Linken. Rot-Rot-Grün – man kann sich schon mal auf die neue Farbenlehre einstellen.