Baderegeln und Seenblau

AUS ROSTOCK JOSEFINE JANERT

Im Klassenzimmer der 10 f wirft ein Beamer eine Karte an die Wand. In die Umrisse von Mecklenburg-Vorpommern sind fünfzig Fotos eingefügt, Kirchen, die Ostsee, Wiesen und die Backsteinhäuser, die für die Küste charakteristisch sind.

Die Farbe Blau dominiert. Das Meer und der Himmel, die Binnenseen. Es ist ein schönes, ein melancholisches Bild. Der Beamer summt, zwei Mädchen in der ersten Reihe tuscheln. Die Eskimos schwitzten bisweilen in ihren Iglus, und bei fremden Völkern herrschten noch ganz andere Sitten, sagt Steffen Herbst. „Jedes Land hat seine Baderegeln, und unsere wollen wir allen zur Kenntnis geben.“ Er ist 48 Jahre alt, ein bärtiger, bulliger Mann.

Herbst liebt sein Land und hat deshalb einen Verein mitbegründet, „Mein Herz für Mecklenburg-Vorpommern“ heißt der. Er warb bei der Lokalprominenz für sein Anliegen und auch in seiner Familie. Zum Termin in der Rostocker Christophorusschule hat er sie alle mitgebracht, seine Frau, seinen Sohn, eine Mitarbeiterin der Arbeiterwohlfahrt, einen Fregattenkapitän a. D. und Gustav Steinhoff, einen Herzchirurgen. Es sind noch mehr Damen und Herren da, die alle ein Herz für Mecklenburg-Vorpommern haben und nun zusammen mit der 10 f auf die Karte starren.

„Kein Mecklenburger soll sein Land verlassen müssen, weil es hier keine Jobs gibt“, sagt Steffen Herbst. Es klingt wie eine Beschwörungsformel. Bleibt bitte! Viele Schüler möchten aber weg nach dem Abitur. Ins Ausland, in ein anderes Bundesland. „So schnell wie möglich“, wird nach der Heimatstunde eine Stralsunderin beteuern. Die Gleichaltrigen in ihrer Heimatstadt seien „so beschränkt – die haben ganz andere Interessen als ich“. Hier in der 10 f sitzen lauter Hochbegabte. Einige wurden, bevor sie an die Christophorusschule kamen, wegen ihrer Fähigkeiten gemobbt.

Jetzt schweigen sie und hören Steffen Herbst zu. Der hat einen Plan: Vielleicht schafft er es, dass weniger Leute abwandern, dass die Mecklenburger mehr Vertrauen fassen, in sich, in ihr Bundesland. Der Plan geht so: Im nächsten Jahr ist in Heiligendamm, einem Ort an der Ostsee, der G-8-Gipfel der führenden Industriestaaten. George W. Bush reist an und mit ihm die Weltpresse. Alle werden auf Heiligendamm schauen. Da werden Steffen Herbst und seine Mitstreiter aus dem Verein dem amerikanischen Präsidenten die Baderegeln überreichen. Als Gastgeschenk. Als Beweis dafür, dass Mecklenburg-Vorpommern noch lebt. „Wir wollen positive Energie einfangen“, sagt Herbst. Die Mecklenburger Mentalität solle auf den G-8-Gipfel „transportiert werden“. Herbst sieht sehr mutig aus und gleichzeitig traurig.

Steffen Herbst wuchs an Mecklenburgs Küste auf. Er lernte Monteur, arbeitete als Schlosser auf einer LPG, war staatlich geprüfter Klauenpfleger. Den volkseigenen Rindern ließ er eine Pediküre angedeihen, behandelte bis zu sechzig Tiere am Tag. Sechzig Kühe, das macht 240 Pediküren pro Schicht. Niemand kann Herbst nachsagen, er sei faul.

Nach der Wende stieg er ins Baugeschäft ein. Er scheiterte zuletzt mit dem eigenen Unternehmen. Dafür hat er jetzt den Verein. Und einen Verlag, der im Book-on-demand-Verfahren Romane und Reprints historischer Bücher über Mecklenburg-Vorpommern, über Pferde und die Jagd veröffentlicht. Der Verlag trägt einen plattdeutschen Namen: Godewind – guter Wind.

Bei Godewind soll auch die Übersetzung der Baderegeln erscheinen, die für George W. Bush bestimmt ist, für die Weltpresse und all die anderen, die ein Herz haben. Das ist Steffen Herbsts Bitte an die Schüler: Sie sollen den Text ins Amerikanische übertragen. Ihre Lehrerin Sabine Haschke will die Patenschule in Hamilton, USA, in diese Arbeit einbeziehen. Ihre Hochbegabten brauchten „viel geistiges Futter“, sagt sie.

Die Baderegeln sind nicht irgendein plumpes Planschprinzip, sondern nach Herbsts Lesart kongeniales Kulturgut von der Küste. Samuel Gottlieb Vogel schrieb sie 1817, ein Medizinprofessor und Leibarzt von Friedrich Franz I., dem Herzog von Mecklenburg-Schwerin. 1793 hatte Vogel seinen Dienstherrn schon dazu bewegt, Heiligendamm zu gründen, das erste deutsche Seebad. Nun setzte er noch eins drauf. Ganz und gar nackt sollten die Herrschaften ins Meer steigen und sich zum Wohle ihrer Gesundheit im Wasser bewegen – streng getrennt nach Männlein und Weiblein, versteht sich. Die Regeln hätten nichts an Aktualität eingebüßt, erklärt Herbst den Schülern: „Du sollst nicht voll gefressen ins Meer hüpfen – da ist was dran.“

Er möchte, dass sie in Archiven und Bibliotheken über Vogels Zeit recherchieren. Herbsts Hände fahren durch die Luft, während er von den Freuden der Forschung spricht und der 10 f die Unterstützung des Godewind-Verlages und „Kontakte in Politik und Wirtschaft“ zusichert.

An der Tafel stehen schon die Worte „Spuren, Erinnerung, Kultur“. Die hat der Herzspezialist Steinhoff angeschrieben. „Darum geht es, Spuren zu suchen, Erinnerungen wieder aufleben zu lassen“, hatte er den Schülern zugerufen. Sie hören viele Vorträge an diesem Tag.

Die Schüler sind sechzehn Jahre alt und stammen aus Rostock, Anklam, Lübeck, Regensburg. Viele wohnen in dem Internat, das zur Schule gehört. Sie wurde 1991 gegründet und ist eine der besten in der Stadt. Im Glaskasten am Eingang hängen Zeitungsartikel über die Erfolge. Die Christophorusschule bringt Sport- und Leseasse hervor. Auf Höflichkeit wird hier Wert gelegt. Auch auf Heimatgefühl?

Carola Herbst jedenfalls hat es. Ihr 700-Seiten-Roman „Weiße Geheimnisse“ spielt um 1817 im Großherzogtum Mecklenburg-Vorpommern. Im Vorwort erinnert sich Frau Herbst daran, wie sie von ihrer Neubauwohnung aus „andächtig“ den Glocken ihrer Heimatstadt gelauscht, wie sie geglaubt habe, Rostock nie verlassen zu können. Sie ist Veterinäringenieurin, eine brünette, zierliche Frau Mitte vierzig. Als die Firma ihres Mannes immer weiter in die Miesen rutschte, setzte sich Carola Herbst hin und schrieb ein Buch. Anderthalb Jahre brauchte sie, dann fand sie keinen Verlag, der ihr seriös erschien. Die Familie beriet – und Hans-Jürgen, der Sohn, gründete von seinem Ersparten den Godewind-Verlag. Inzwischen leben die Herbsts in Wismar auf 170 Quadratmetern, die zugleich Büro und Wohnung sind. Steffen Herbst firmiert als Geschäftsführer, Carola als Autorin und Lektorin, und Hans-Jürgen ist Gesellschafter des Verlags. Ab dem Wintersemester will er in Wismar studieren. Seine Schwester Ramona unterstützt Verein und Buchproduktion von Neubrandenburg aus.

Carola Herbst nimmt vor der 10 f Platz, um aus ihrem Roman zu lesen. Sonst tritt sie in Kulturzentren auf, bei Seniorenvereinen und der Volkssolidarität, der ostdeutschen Wohlfahrtsorganisation. Tausend Exemplare für je 19,90 Euro hat sie bislang verkauft. Ihre Geschichte ist ausschweifend, mit Grafen, Pastoren, Landwirten. Irgendwo in der Mitte steigt das Mädchen Johanna den Vogel’schen Baderegeln folgend in die Ostsee und japst dabei „Huch, hach. – Das Wasser reichte ihr bis knapp unter den Bauchnabel, ihre Brustwarzen versteiften sich“, liest Frau Herbst der 10 f vor.

Die Doppelstunde ist vorbei, das Blau von Mecklenburg-Vorpommern erloschen. Die Dame von der Arbeiterwohlfahrt verschwindet, der Fregattenkapitän a. D. und auch der Herzspezialist Steinhoff. Steffen Herbst steuert die Kantine des Internats an. Mit dem Verein wolle er auch seine Kinder binden, erzählt er. An das Land, an sich selbst.

Steffen Herbst setzt sich zu drei jungen Mädchen aus der 10 f, die einen Imbiss nehmen. Ob es ihnen gefallen habe, fragt er schüchtern. Ja. Und: Ja, sie mögen Mecklenburg-Vorpommern. Blau ist das Meer, so weit das Auge reicht, die Kühlung, ein Wäldchen hinter dem Strand, ist fast hügelig zu nennen. „Hinter unserem Haus kommt ein Spazierweg und dahinter der Bodden“, erzählt eine Schülerin. Trotzdem wolle sie ins Ausland, um Sprachen zu lernen. „Ich mache euch keinen Vorwurf daraus, dass ihr weg wollt“, sagt Steffen Herbst. „Ich hoffe nur, es ist freiwillig.“