: Grausames Soziotop
THEATER Hannoversche Schüler, Lehrer und Staatstheater-Profis beschreiben in dem Stück „komA“ jenes soziale Klima an einer Schule, das sie als die Voraussetzung für einen Amoklauf einschätzen. Gespielt wird in den Räumlichkeiten eines realen Gymnasiums in Hannover
VON ANWEN ROBERTS
„Tell me why… I don’t like Mondays“ – Musiklehrer Stach sitzt am Klavier und ein Dutzend Jugendlicher stimmt mit ein. Der Song stammt Bob Geldof, er entstand 1979 in Folge eines Amoklaufs an einer Schule in San Diego. Musiklehrer Stach ist eine fiktive Figur und seine musikalische Einlage ist die erste Szene des Theaterstücks „komA“, das sich unter der Regie von Mirko Borscht im realen Ambiente der hannoverschen Tellkampfschule mit der fiktiven Vorgeschichte eines Amoklaufs beschäftigt. „komA“ wie Amok, nur rückwärts.
Der Gesang der Jugendlichen wird unterbrochen von dem lautmalerischen „Peng!“ einer Schießerei im Klassenzimmer. Die gesamte Klasse fällt um, nacheinander stehen alle wieder auf, um die Geschehnisse für das Publikum zu rekapitulieren.
Die Schüler in „komA“ sind reale Schüler – von dort oder teils von der Straße weg gecastet, von anderen Schulen in Hannover und Umland. Zwei der Lehrerfiguren im Stück sind Schauspieler von Staatstheater Hannover. Das Lehrerpaar Herr und Frau Bartosch wiederum wird von zwei realen Lehrern der Tellkampfschule gespielt – ein humorvolles Ehepaar, das mit seiner Rolle als zynische Alt-68er im Stück hadert.
Die Zuschauer folgen den Akteuren, die vom Keller über den Kunstraum und die Mädchenklos an vielen Schauplätzen des Gymnasiums spielen. Jeder im Publikum erlebt eine eigene Inszenierung, folgt mal dieser, mal jener Figur, wird angesprochen oder angerempelt und so Zeuge von „Teenager außer Kontrolle“-Klischees: Es gibt Prügeleien in der Turnhalle, pseudo-heimlich gedrehte Joints, anonyme Chatrooms, obszöne Gesten.
Das Stück fordert vom Zuschauer vor allem Selbstreflexion. Was ist noch auszuhalten – müsste man hier nicht eingreifen? Wie vielen physischen, psychischen und sexuellen Übergriffen kann man einfach zuschauen? Bevor Schüler Malte unvermittelt im Flur vor einem Klassenraum zu Boden stürzt, drückt er drei Zuschauern noch stumm je ein Stück Kreide in die Hand. Die Flure füllen sich allmählich mit den gezeichneten Umrissen von Menschen.
Die Zuschauer müssen laufen, sich ansprechen lassen und mitmachen. Außerdem müssen sie sich selbst fragen: Bin ich die einzige, die nicht mitbekommen hat, wer der Täter ist? Die alles entscheidende Schlüsselszene womöglich verpasst hat? Recht schnell wird klar, dass es hier in der Tellkampfschule kein richtig und falsch gibt, weder zeitlich noch räumlich. Bloß fragen muss man sich trotzdem.
Einen identifizierbaren Täter gibt es nicht, nur Indizienspuren. „Am 20. April hab ich schon was vor“, sagt Gregor, als frustrierter Ex-Schüler mit Glatze für viele wohl der Täterkandidat schlechthin. Ob er nun den Jahrestag von Columbine meint, oder Hitlers Geburtstag?
Auch wenn der grausame Schulalltag, dieser ganz normale Wahnsinn von Mobbing, Gewalt und Übergriffen, gnadenlos überzeichnet ist – durch Spielort, Ensemble und lose improvisierte Dialoge wirkt die Inszenierung durchaus realistisch. Einige der jungen Laiendarsteller haben beachtlich überzeugend ihre Figuren selbst ausgearbeitet. Das, was daran ein bisschen zu realistisch scheint, ist es, was Angst macht.
Am Tag nach der Premiere gibt es zwei rein männlich besetzte Diskussionsrunden im Ballhof in Hannover zum Thema Gewalt an Schulen. Schnell fallen die Schlagworte Columbine, Erfurt, Winnenden: Taten, die vor allem durch die Berichterstattung über die Täter im Gedächtnis geblieben sind. Das macht das Theaterstück „amoK“ anders: Es handelt nicht vom Täter und dem Ablauf der Tat, sondern liefert eine tastende Analyse des sozialen Raums Schule.
Kurzzeitig liebäugeln die versammelten Experten auch damit, Täterprofile und Charaktereigenschaften von Amokläufern zu diskutieren. Doch die anwesenden Schüler wehren sich vehement gegen jegliche Klassifizierung, Etikettierung oder Katalogisierung. „Also dann wären wir alle ein bisschen Amok – ich trage schwarz, er hört Metal, sie spielt Egoshooter.“ Ende des Psychogramm-Versuchs.
Für die Vorstellungen im April gibt es nur noch Restkarten. Termine im Mai: 4./5./6. und 18./19./20. jeweils 19 Uhr, Tellkampfschule Hannover