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Archiv-Artikel

Ohne Perspektiven bleiben Frust und Gewalt

Nordrhein-Westfalen diskutiert die Zukunft der Hauptschule: Lehrergewerkschaften und Landtagsopposition fordern integrativen Unterricht – denn Hauptschulen konzentrierten sozial Schwache und benachteiligten sie so systematisch

DÜSSELDORF taz ■ Die Debatte um die Zukunft der Hauptschulen geht nach der Kapitulation des Lehrerkollegiums der Berliner Rütli-Schule auch in Nordrhein-Westfalen in eine neue Runde. Gewerkschaften, Lehrerverbände und die Opposition im Düsseldorfer Landtag fordern die integrative Schule für Alle. NRW-Schulministerin Barbara Sommer (CDU) sprach sich dagegen für den Erhalt der Hauptschulen aus.

Ausgelöst wurde die Debatte von den Lehrerinnen und Lehrern der Rütli-Hauptschule im Berliner Problemstadtteil Neukölln. Mit einen verzweifelten Brandbrief hatte das Kollegium um die Auflösung ihrer Schule gebeten: Der Unterricht sei geprägt durch „totale Ablehnung des Unterrichtsstoffs und menschenverachtendes Auftreten“, schreiben die Pädagogen. Dabei sei die Gewalt an der Berliner Hauptschule nur die „Spitze des Eisbergs“, erklärt nicht nur der Verband Bildung und Erziehung (VBE). Vielmehr spiegele sich die „Ghettoisierung von Bürgern mit Migrationshintergrund oder sozialen Problemen“ gerade im Ruhrgebiet auch im Schulsystem wieder, so der VBE-Vorsitzende Udo Beckmann: „Junge Menschen erleben in ihrem Umfeld Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit.“

Der so entstehende Frust führe zu „Zerstörungswut, Beleidigungen, Respektlosigkeit, Bedrohungen“, sagt auch Norbert Müller, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Besonders massiv seien die Probleme in sozialen Brennpunkten, die von der Politik aufgegeben worden seien, wo der Großteil der Jugendlichen chancenlos sei: „Im Norden des Ruhrgebiets können doch nur noch zehn Prozent eines Hauptschuljahrgangs mit einer Lehrstelle rechnen.“

Nötig sei deshalb ein Schulmodell, in dem Kinder aller sozialen Schichten gemeinsam unterrichtet würden, so GEW-Vize Müller. „Solange die Schülerschaft sozial heterogen ist, komme ich wunderbar mit dem Firmenschild Hauptschule klar.“ Einen gemeinsamen Unterricht auch in der Sekundarstufe fordert die Fraktionschefin der Grünen im Landtag, Sylvia Löhrmann: „Der Glaube, möglichst homogene Lerngruppen ließen sich besonders gut fördern, ist falsch.“ Nötig sei stattdessen die Zusammenführung verschiedener Schulformen zu Verbundschulen.

Bewegung zeigt sich auch bei der SPD, die im Landtagswahlkampf das Thema der integrativen Schule in Erinnerung an die nordrhein-westfälische Gesamtschuldebatte auffällig gemieden hatte. „Wir sind offen für das integrative Schulsystem“, so Landtagsfraktionschefin Hannelore Kraft zur taz. Auf dem heutigen Landesparteitag in Bochum werde „der Startschuss für eine neue Schuldebatte“ fallen. NRW-Schulministerin Barbara Sommer warb dagegen für die Qualitätsoffensive, mit der die Landesregierung die Hauptschulen unterstützen will: „Jedes Kind und jeder Jugendliche wird mitgenommen.“ ANDREAS WYPUTTA

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