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Archiv-Artikel

Die Downtown-Sensation

Mit dem Fahrrad durch Johannesburg zu fahren ist auf den ersten Blick nur etwas für Lebensmüde. Doch der zweite Blick gibt eine faszinierende Sicht auf die südafrikanische Stadt frei mit freundlichen Passanten und einigen Heiratsanträgen

Free Spirit brachte mich in Gegenden, von denen mir erzählt wurde, sie seien zu weit entfernt oder zu gefährlich

von KATHRIN POLLOW

Mein Freund heißt Free Spirit, ein kleines, rostiges, türkisfarbenes Fahrrad mit abgefahrenen Bremsklötzen, fehlendem Licht, kaum funktionierender Gangschaltung und bedeutungsschwerem Namen. Gebrauchte Fahrräder sind rar in Südafrikas hügeligem Geschäftsmoloch, und nach etlichen Probefahrten, Neumontierungen und Wartestunden in einem verstaubten, überhitzten Laden kaufte ich es dem indischen Händler endlich ab. Free Spirit brachte mich in Gegenden, von denen mir erzählt wurde, sie seien zu weit entfernt oder zu gefährlich. Die Leute, die mich warnten, empfanden mein Vorhaben als dreist und dumm. Aber wir haben es dennoch gewagt und den Moloch gemeinsam durchquert.

Johannesburg hat nach dem Untergang des Apartheidregimes einen radikalen Wandel durchlebt. Sowohl die ehemals in der Innenstadt angesiedelten Kapitalunternehmen als auch die Mehrzahl der weißen Stadtbewohner verließen fluchtartig die zuvor für sie reservierten Geschäfts- und Wohnbezirke in Richtung Norden. Von wirtschaftlichem Einfluss und Interessen abgekoppelt, verslumte der innerstädtische Bereich. Südafrikas schwarze Bevölkerung sowie Immigranten aus den angrenzenden Ländern zogen in die frei gewordenen Bürogebäude und Wohnungen. Heute platzt der gewaltige Gebäudemischmasch aus den 20er- bis 80er-Jahren aus allen Nähten. Die großen Bürofenster sind mit Bettlaken, Wäscheleinen und Plastikplanen verhängt. Second-Hand-Höker, Hühnerställe, Fruchtstände und weggeworfene Handzettel, die wundersame Potenzmittel anpreisen, säumen die Gehwege, buntes Chaos beherrscht die breit angelegten Straßen, und bei Nacht verfällt so manch eine Gegend in ein trunkenes, musikdurchsetztes Delirium.

Die Viertel sind gefährlich, Morde häufig. Im Jahre 2001 wurden im ehemaligen Geschäftsdistrikt zweihundert zentral überwachte Videokameras installiert, die Zahl der Raubüberfälle sank erheblich. Trotzdem meidet die weiße Bevölkerung den innenstädtischen Bereich weiterhin, weiße Gesichter sind höchstens hinter verriegelten Autoscheiben zu sichten.

Ausnahmen im krassen Gegensatz zwischen Vor-, Innenstadt und Townships bilden das indisch geprägte Fordsburg, der restaurierte kulturelle Bezirk Newtown, die Studentenviertel Braamfontein und Auckland Park sowie die multikulturellen, von Künstlerkolonien bewohnten ehemaligen Arbeiterviertel Melville und Troyeville.

Ich wollte alles sehen; das Studio eines Freundes in Newtown und meine neue Unterkunft in Troyeville waren meine ersten Anlaufpunkte. Doch ich hatte Angst. Warnungen vor Überfällen, Mord und Totschlag hatten ihre Spuren hinterlassen. Um von Troyeville nach Newtown zu gelangen, musste ich durch die Innenstadt. Unheil ahnend schwang ich mich in den Sattel und raste starren Blickes durch die bedrohlich wirkenden, grauen, vor Menschen brodelnden Häuserschluchten. Unbewegliches Gesicht. Verkniffene Lippen. Rote Ampeln ignorierend. Bis ich feststellte, dass ich gar nicht rasen musste. Mir fielen lächelnde Gesichter auf. Ich nahm Begrüßungen wahr. Ich fing an, mich zu entspannen, und hielt an, um zu sehen, was um mich herum passierte.

Den Reaktionen der Passanten zufolge befand ich mich nach ein paar Tagen auf bestem Wege, ein Downtown-Maskottchen zu werden. Die an jeder Ecke und vor den Geschäften stationierten Sicherheitskräfte kannten mich. Ladenbesitzer begrüßten mich. Hielten mich an, um mir zu erzählen, wo sie mich gestern gesehen hatten, beschwerten sich, wenn ich vergaß, zu winken. Frauen, die in den Warteschlangen der Minibus-Haltestellen standen, schüttelten ungläubig ihre Köpfe, ganze Reihen von Wartenden brachen in Gelächter aus. Gebeugte Mütterchen in für Südafrika typischen Kittelkleidern – einer Mischung aus afrikanischem Mustermix und nordeuropäisch geblümter Hausfrauenuniform – erkundigten sich verschmitzt, ob sie mitfahren könnten. Kwaito-Sänger, die in den Eingängen von Warenhäusern, deren Tore für Kunden schon vor langer Zeit geschlossen sind, wild anmutende Vorstellungen ablieferten, widmeten mir Shout-outs. Die aufgrund hoher Arbeitslosenzahlen allgegenwärtigen Gruppen von flanierenden Jungs mit ihren lässig aufgesetzten Golfhüten mokierten sich, quatschten mich an den Ampeln an, liefen bei den Versuchen, einen ausgiebigen Blick zu erhaschen, gegen Lampenpfeiler, gefielen sich in gespielten Attacken, die in hysterischen Freudenausbrüchen endeten. Frühreife, schlaue Mädchen in Schuluniform interviewten mich über Lebens- und Heiratspläne. Und die verrückten Minibusfahrer schnitten mir den Weg ab, doch auch das nicht, ohne „ihrer Süßen“ noch schnell einen Handkuss zuzuwerfen.

Am Abend, nach einem langen Tag, freute ich mich auf die Gute- Nacht-Rufe der obdachlosen Männer, die in den Hauseingängen der Marketstreet ihre Nachtlager aufbauten. Freute mich auf ihre immer wieder neuen Liebesbekenntnisse. Ich fühlte mich auf seltsame Weise beschützt.

Manchmal, wenn ich von Troyeville zum zehn Kilometer entfernten Rosebank fuhr, schien es aussichtslos, die hügelige Strecke mit Free Spirit zu bewältigen. Ich wollte ein Auto anstelle eines blöden, alten Fahrrads. Sobald ich dann jedoch in den verträumten Straßen Troyevilles herumradelte, fing meine frühmorgendliche schlechte Laune auch schon an zu verfliegen. Das Vogelgezwitscher, das Gelächter der Kinder wirkten wie Magie. Noch ein paar Tritte, und Free Spirit bewegte sich wie von allein. Die aus den offenen Haustüren und Fenstern wehenden Rhythmen der angolanischen Rumbas und mosambikanischen Marrabentas brachten Schwung in meine Beine, der rohe Charme der Innenstadt, die Musik, das Geschwätz, das Menschengewusel, die alten Gebäude und die versteckten Mosaike zeitgenössischer Künstler waren von berauschender Qualität, das Hohngelächter der Studenten auf der Mandela-Brücke spornte mich zu sportlichen Höchstleistungen an, und Zoolakes Wiesen lockten mit ihrem grünen Gras für eine wohl verdiente Pause. Wie hatte ich mir ein Auto wünschen können? Mein Fahrrad hat mir eine Welt eröffnet, die mir anderweitig verschlossen geblieben wäre. Mein Dank geht an Free Spirit.