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Archiv-Artikel

Am Kern vorbei

Nordstaat? Für den Bremer Josef Hattig wäre er keine Option: Der gesamte Norden würde dabei verlieren

1. Diese Frage ist nicht nur eine Zukunftsfrage. Sie ist bereits in der Vergangenheit auf Bundesebene immer wieder erörtert worden, verfassungsrechtlich wie auch staatspolitisch. Keine Zukunft ohne Herkunft. Der bremische Stadtstaat hat eine durch Jahrhunderte gewachsene und selbstbestimmte Identität. Selbständig zu sein ist für Bremen die beste Lösung. Auch und vor allem bei wirtschaftlichen Herausforderungen. Die geschichtliche Identität ist kein Fossil, sondern Perspektive.

2. Stadtstaaten sind überschaubar. Die handelnden Akteure in Politik und Wirtschaft kennen sich. Die Wege sind kurz. Die in Flächenstaaten üblichen Regierungsebenen fehlen. Das bedeutet: Schnellere Entscheidung und weniger Bürokratie. Natürlich kann (muss) dies weiter verbessert werden. Zur generellen Feststellung einiger Fakten: Die Wirtschaftskraft Bremens wurde in den vergangenen Jahren auf 140 Prozent des Bundesdurchschnitts gesteigert. Unter 97 deutschen Arbeitsmarktregionen hat Bremen die höchste Arbeitsplatzdichte – allein 130.000 Niedersachsen haben in Bremen ihren Arbeitsplatz. Als Oberzentrum bietet Bremen ein beachtliches Dienstleistungs-, Kultur- und Bildungsangebot. Das Bruttoinlandsprodukt liegt pro Kopf um 35 Prozent über dem Bundesdurchschnitt und ist z. B. höher als das von Lettland und Estland zusammen. Hafen- und Handelstradition sind nicht nur ein Gestern, sie sind auch ein Heute und Morgen, sind Perspektive. Selbständig zu sein bedeutet vor allem Gestaltungsfreiheit. Bremen nutzt seine Chancen.

3. Wenn überhaupt können die Nachteile in einer mangelnden politischen Gestaltungskraft liegen. Das wiederum gilt nicht für Bremen.

4. Weil die Debatte vorgeschoben ist. Sie verdeckt, dass die aus der Balance geratenen Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden neu zu ordnen sind. Es fehlt an Anreizen für eine wirtschafts- und finanzstärkende Politik. Im Übrigen: Auch Stadtstaaten haben unterschiedliche Interessen. Um mich auf die hanseatischen Stadtstaaten zu begrenzen, also für Hamburg und Bremen festzustellen: Diese Geschichte zeigt die Kraft und den Vorteil selbständig zu sein und zu bleiben.

5. In der Verfassung der Bundesrepublik ist die föderale Struktur als Machtbalance zwischen Bund und Ländern ein Eckpfeiler der Demokratie. Diese verfassungsbestimmte Ordnung ist mehr als eine ausgeglichene Haushaltssituation, so sehr diese auch notwendig ist. Stadtstaaten wie Hamburg und Bremen belegen mit ihrer Geschichte, dass Unterschiede das Ganze fördern. Verlierer wäre der gesamte Norden. Im gegebenen Finanzausgleichssystem würde sich seine finanzielle Position um etwa 2,2 Milliarden Euro verschlechtern, ohne dass sich der Finanzbedarf signifikant reduzierte.

Wer den Föderalismus reformieren will, muss nicht die Länder neu gliedern oder beseitigen, muss nicht historisch gewachsene regionale Identitäten in neue Verwaltungsgrenzen zwingen. Wer eine wirkliche Reform will, sollte auf eine klare Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern hinwirken und für eine grundlegende Neuordnung der innerstaatlichen Finanzierungsmodalitäten sorgen. In der gegebenen Finanzordnung fehlt es an Anreizen für eine wirtschafts- und finanzstärkende Politik.

6. Es ist, wie gesagt, eine fehlgeleitete Debatte, die am eigentlichen Kern der Misere, dem leistungsfeindlichen Finanzausgleichssystem, vorbeiführt. Es ist geradezu paradox, dass Bremen zunächst in erheblichem Maße originäre Steuerkraft abführen muss, um anschließend über den Länderfinanzausgleich bestimmte Zuwendungen zu bekommen, die aber weitaus geringer sind als das, was man Bremen vorher genommen hat. Wir werden künstlich arm gerechnet. Gutachtliche Untersuchungen belegen, dass sich die Benachteiligung Bremens auf jährlich etwa 600 Millionen Euro beläuft. Würde man Bremen das Steueraufkommen belassen, das in unserem Stadtstaat erwirtschaftet wird, dann wären wir ein wohlhabendes Land und könnten wieder das sein, was wir bis zum In-Kraft-Treten der jetzt geltenden Regelung im Jahre 1970 waren: Ein Geberland, das sogar Bayern unterstützt.

7. Es bedarf einer grundlegenden Neuordnung der innerstaatlichen Finanzbeziehungen. Die bloße Veränderung von Ländergrenzen bewirkt keine Synergieeffekte, keine Lösung der akuten Probleme: Auch addierte Schulden bleiben Schulden. Im Übrigen ist an Artikel 29 Absatz 2 GG zu erinnern. Die Neugliederung des Bundesgesetzgebietes steht unter plebiszitärem Vorbehalt. Die Lust an der Debatte bleibt, ob sie eine Veränderung bewirkt, ist eher skeptisch einzuschätzen. Wie auch immer: Bleibt es beim Status quo, ist die Freie Hansestadt Bremen auch in zehn Jahren ein selbständiger Stadtstaat. Wird der Finanzausgleich leistungsorientiert verändert, gilt dies ohnehin.