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Archiv-Artikel

Goethe, Schiller wieder komplett

Private Sammler, die Bücher aus dem 16. bis 18. Jahrhundert zur Verfügung stellen, Geldspenden, Sicherungsverfilmungen: Die Restaurationsarbeiten der 2004 bei einem Brand stark zerstörten Herzogin Anna Amalia Bibliothek machen Fortschritte

Den neu hinzukommenden Büchern fehlt allerdings die Vorbesitzer-, Erwerbungs- und Gebrauchsgeschichte

VON MARTINA DREISBACH

Wer Hilfe braucht, lebt. So gesehen, ist das weiße Plakat „Hilfe für Anna Amalia“ über dem grünen Bauvorhang ein gutes Zeichen. Was mit dem äußerlich nahezu wiederhergestellten historischen Gebäude geschehen ist, daran erinnert ein schwarz verkohlter Holzrahmen, der beiläufig am Hauptportal lehnt. Das Leben der am 2. September 2004 von einem Brand zerstörten Weimarer „Herzogin Anna Amalia Bibliothek“ (HAAB) stand eine Nacht lang auf dem Spiel. 50.000 Bände – zumeist aus dem 16. bis 18. Jahrhundert – verbrannten, 62.000 andere wurden beschädigt. Die Renovierung des historischen Bibliotheksgebäudes, das zum Weltkulturerbe zählt, läuft auf Hochtouren und soll 2007, im 200. Todesjahr der kunstsinnigen Herzogin, beendet sein.

Noch aber ist die Baustelle streng abgeriegelt. Vis-à-vis, über den Platz der Demokratie hinweg, ist im „Kubus“, dem vor einem Jahr eröffneten „Studienzentrum“, ein neues Zeitalter angebrochen. Im alten Bau rief jeder Schritt auf dem Parkett gleichsam ein Echo aus der Goethezeit hervor, verströmten die Tapeten und Holzrahmen noch bei jedem Wetter einen anderen Geruch, schufen die vielen Ölgemälde und Grafiken eine eigentümlich gediegen-andächtige Atmosphäre. Im Kubus hingegen sind die Linien klar. Licht- und Sichtachsen weisen den Weg zu 120.000 Bänden in der Freihandbibliothek. In den Untergeschossen der zwei Tiefmagazine ist wiederum Raum für 860.000 Bücher. Im neuen Gebäude reihen sich Bildschirme aneinander, die blitzschnell Informationen bereithalten. An stillen Fenstern sind unter Tischlampen Leseplätze angeordnet. Ein Blickfang sind die alten hölzernen Karteikästen mit Zettelkatalogen. Sie standen im Eingang des alten Gebäudes. Sie sind das Gedächtnis der Bibliothek. Hier lassen sich Bestand und Verlust abgleichen. Der Katalog wird auch nach der elektronischen Erfassung seinen Sinn für die Wissenschaft nicht verloren haben, da die Titelkarten handschriftliche Vermerke tragen, welche für die Provenienzforschung wichtig sind.

Der Kubus, unabhängig von der Brandkatastrophe als überfällige Erneuerung geplant, fügt sich in all seiner Eckigkeit in den Hof zwischen Gelbem und Rotem Schloss, offenbart die schönsten Blicke aus dem Fenster und ist der ganze Stolz ihrer Bewohner, der siebzig Angestellten der Herzogin Anna Amalia Bibliothek.

Dass das Studienzentrum wie geplant vor einem Jahr eröffnet werden konnte, ist ein Glücksfall und hilft den Mitarbeitern auch mit seiner modernen Ausstattung bei der Bewältigung der vielen Arbeit nach dem Brand. Der Schrecken erzählt sich so, wie eine schwere Krankheit sich erzählen lässt: Irgendwann sitzt jeder Satz, jedes Wort, jede Geste. Mit jeder Schilderung wird die Seele etwas erleichtert. Mit der Zeit weicht der Schrecken, die Erinnerung bleibt. Wer klug ist, rüstet sich mit der Empirie, dass nach einem solchen Vorfall nichts mehr sein kann wie zuvor. Dennoch: Manche traf der Brand am Ende ihres Berufslebens, das der Katalogisierung der Bücher gewidmet war. Niederschmetternd. Doch so manch einer wirkt nun ehrenamtlich bei der Aufbauarbeit mit, wie in Weimar zu hören ist.

An Tröstungen hat es nicht gefehlt, gerade aber auch die tatkräftige Unterstützung in Form von Bücherspenden ist ungebrochen. Zum Beispiel ein großzügig mit Geld versehener Brief aus der Schweiz, adressiert an die „Abgebrannte Bibliothek, Weimar, Deutschland“, oder jüngst 300 Inselbände eines neunzig Jahre alten Mannes aus Gummersbach samt Originalbriefen von Hans Carossa.

„Zuweilen wird ein Wäschekorb voller Bücher hier vor der Tür abgeliefert, was uns natürlich auch freut“, sagt Dr. Johannes Mangei, Dezernent für Erwerbung und Erschließung der Bibliothek. In solchen Fällen kommt es aber zuweilen zu Doubletten: Goethe und Schiller etwa fehlen nicht mehr in den Regalen. Mangei ist es lieber, wenn man sich vorher in einem Telefonanruf über die Spende abstimmen kann. Zudem gibt die Bibliothek im Internet mit ihrer „Verlust-Datenbank“ darüber Auskunft, was fehlt. „Wir sind beteiligt bei der Sicherungsverfilmung, einem Pilotprojekt. Wir sichern so unwiederbringliches Material“, sagt Mangei. „Wir haben die kostbare ‚Faust‘-Sammlung zur Faksimile-Erschließung ausgewählt. Dann kann mit einem Klick frühe ‚Faust‘-Ausgaben aus dem 16. Jahrhundert betrachten.“

Herausragend freilich ist ein Tag wie jener Ende Februar, als ein großzügiger Sammler 25 Bände aus genau der Zeit des 16. bis 18. Jahrhunderts stiftete, deren Bestand vom Brand am schwersten getroffen wurde. Die Folianten stehen auf einem Rollregal in der Galerie des Kubus. Rechnerisch machen sie 0,05 Prozent der verloren gegangenen Bücher aus. Aber ein Rechenexempel ist der Ersatz historischer Bücher, in denen Goethe, Schiller und Wieland, aber auch ungezählte andere Menschen geblättert und gelesen, in denen sie Anmerkungen hinterlassen haben, nicht. Dazu fehlt den neu hinzukommenden Bücher die Vorbesitzer-, Erwerbungs- und Gebrauchsgeschichte, wie Johannes Mangei es ausdrückt.

Mit einer Wiederherstellung von hundert Prozent darf also nicht gerechnet werden. Der Ersatz kann allenfalls kongenial sein. Bislang haben sich tausend Bücher aus derselben oder einer anderen Auflage wieder eingefunden. Der Aufwand bezieht das „ZVAB“ ein, das Verzeichnis antiquarischer Bücher. Antiquare sind aufgerufen, bei Auftauchen der gesuchten Bücher mit Weimar Kontakt aufzunehmen.

Doch auch die „Neuzugänge“ haben Geschichte. Der Spender Elcke Eirich aus Hofheim am Taunus zum Beispiel berichtet, wie er als Schüler an eben diese Bücher geriet, dass er sie eintauschte gegen eine Spatzenschleuder, und dass eines davon wohl schon einmal in kargen Zeiten als Brennmaterial in einem Ofen gelegen habe, aber doch nicht richtig habe brennen wollen.

Eirich, 67 Jahre alt, ehemaliger hessischer Landesbeamter, hatte ein sicheres Gespür für Erhaltenswertes. Die Bücher, die mit ihrem aus Lumpen hergestellten Papier auch nach Jahrhunderten hell und gut zu lesen sind, wirken auf ihre Art trutzig. „So alt wird ja kein Mensch“, sagt Eirich und übergibt „ohne Wehmut und mit der Zuversicht, dass sie sich hier wohl fühlen werden“, die Bücher an den Direktor Dr. Michael Knoche. Doch nimmt er wie zum persönlichen Abschied schnell noch ein schmales Exemplar heraus, in dem es um „Bienenzucht“ geht. „Es ist ein Standardwerk von 1777“, sagt Eirich, „ich habe selbst danach Bienen gezüchtet. Da stehen Methoden drin, die erst vom 19. Jahrhundert an wieder gang und gäbe waren.“

Dieser Neuzugang würden auch den Leiter des Weimarer Bienenmuseums nach dem Verlust von etwa dreißig Bienenbüchern freuen, sagt Johannes Mangei. Die Anna Amalia ist nicht nur Forschungsbibliothek, sondern für jedermann zugänglich. Die Weimarer sind zu beneiden. Die Neuzugänge aus dem Taunus kommen zunächst ins Tiefmagazin, wo sie mit 860.000 weiteren Büchern in Reihe stehen, bis sie im Lesesaal verlangt werden. Auf dem Weg dorthin streift man die neue, noch im Wachsen begriffene „Romanbibliothek“ – eine Gabe der Suhrkamp Verlage Insel, Jüdischer und Deutscher Klassiker Verlag.

„Sie ist dem großen Lesebedürfnis geschuldet“, sagt Roland Bärwinkel, Referatsleiter für Informationsdienste. Wie ein riesiger Schiffsbauch nimmt sich der unterirdische Teil der Bibliothek aus. Die lange Rampe gleicht Unebenheiten im Gelände aus. Wohin das Auge blickt, helle Holzregale, Bücher, Bücher. „Siebzig Kisten aus Leipzig“, ruft ein Mitarbeiter herüber. In Leipzig befindet sich das „Zentrum für Bucherhaltung“, wohin nach dem Brand tausende beschädigter Bücher gebracht wurden. Die mit Löschwasser durchtränkten Bücher waren zunächst eingefroren und in einem Gefriertrockenverfahren wieder aufgetaut worden. Jetzt kommen sie zurück und werden nach der Schadenserhebung in Klassen eingeteilt. Dann wird über ihre Restauration entschieden.

Über Roland Bärwinkels Büro surrt die Buchförderanlage. Hinten geht die Glastür ins Tiefmagazin und zum Tresor, wo die wertvollsten Sondersammlungen aufbewahrt werden. Der weiträumige Flur ist geruchsfrei, nicht allzu hoch, in Rot und Grau gehalten. Eine Stahltür bildet den Übergang zur historischen Bibliothek. Bärwinkel erinnert sich. An dieser Stelle stand er mit zahllosen anderen Helfern, Mann an Mann, im verzweifelten Versuch, Bücher vor dem Feuer zu retten. Eigentlich hatte er in jenen Tagen sein zwanzigstes Dienstjubiläum feiern wollen. Dann rief ein Freund an: „Deine Bibliothek brennt.“ Darauf Bärwinkel: „Der Witz ist nicht lustig.“ Und der Freund: „Das ist kein Witz.“