: „Musik unterstützt die Lebensrückschau“
STERBEBEGLEITUNG Musiktherapeutin Astrid Güting singt und musiziert im Hospiz und auf einer Palliativstation. Dabei wollen gar nicht alle sphärische Klänge. Mancher wünscht sich auch den letzten Rock’n’Roll
■ 35, Musiktherapeutin und Violinistin, arbeitet im Hospiz von Hamburg Leuchtfeuer und auf der Palliativstation des städtischen Klinikums Lüneburg. Ihre Arbeit wird großteils über Spenden finanziert, sodass sie allen Patienten zugute kommt.
INTERVIEW PETRA SCHELLEN
taz: Frau Güting, für wen eignet sich Musik als Sterbebegleitung?
Astrid Güting: Das kann man nicht verallgemeinern. Zu Musik hat ja fast jeder Mensch eine Beziehung – auch diejenigen, die unmusikalisch sind und kein Instrument spielen, haben in der Schule gesungen oder hören Radio. Musik ist etwas Universelles, und ich habe selten erlebt, dass jemand sagt, dass ihm Musik nichts bedeutet. Es gibt allerdings Sterbende, die keinen Fremden um sich haben wollen. Auch keinen Musiktherapeuten.
Wie verläuft der Erstkontakt?
Ich gehe zu den Patienten, stelle mein Angebot vor und frage, was ihnen gefällt und welche Beziehung sie zu Musik haben. Dann wählen sie, was sie möchten.
Worin besteht Ihr Angebot?
Einerseits biete ich Entspannungsmusik an. Das empfinden die meisten als wohltuend, weil es sie ablenkt von Schmerzen und Gedanken. Ich improvisiere auf Saiteninstrumenten wie Monochord, Leier oder Kantele, die einen zarten, lang schwingenden, sphärischen Klang haben. Außerdem biete ich Klangreisen an. Ich lade die Patienten also ein, die Augen zu schließen und sich überraschen zu lassen von den Bildern, die auftauchen. Dafür benutze ich die Ocean Drum, die wie Meeresrauschen klingt – oder eine Sansula, ein kleines Daumenklavier.
Wie finden Sie das zum Patienten passende Instrument?
Manchmal wähle ich intuitiv, manchmal stelle ich die Instrumente vorher vor und lasse den Patienten aussuchen, damit keine für ihn unangenehmen Klänge ertönen.
Singen Sie auch?
Ja, zur Gitarre. Die Älteren wünschen sich meist Volkslieder oder alte Schlager, die Jüngeren Rock- und Popsongs. Viele wünschen sich natürlich Lieder, die mit Erinnerungen verbunden sind. Dann erzählen sie hinterher: Da war ich beim Konzert, dort habe ich zum ersten Mal getanzt. Die Musik unterstützt dann die Rückschau auf das Leben. Außerdem ist sie wohltuend, weil sie auch gesunde Anteile des Menschen anspricht. Denn auch wenn der Körper krank ist, ist ja das Innere, die Psyche gesund.
Lindert Ihre Musik auch körperlichen Schmerz?
Manchmal sogar das: Ein Patient sagte mal: Jetzt habe ich meinen ganzen Körper gespürt, aber keine Schmerzen. Und ein Lungenkrebs-Patient sagte: Während Ihres Spiels habe ich gar keinen Sauerstoff gebraucht. Und ich habe es nicht mal bemerkt.
Wünschen sich manche Menschen traurige Musik?
Ja, oft, denn Musik kann diese Gefühle kanalisieren. Und oft weinen die Menschen dann – auch wenn sie das sonst gar nicht können. Einmal zum Beispiel kam ich in ein Krankenzimmer mit einem älteren Ehepaar, und die Stimmung war außerordentlich gedrückt. Mir war klar: Sie können nicht über den Tod sprechen. Sie wünschten sich dann das Lied „Im schönsten Wiesengrunde“, in dem es konkret um Abschied und Sterben geht. Sie sangen mit, und plötzlich löste sich etwas, und all die Trauer kam heraus.
Weinen Sie manchmal mit?
Ja. Anfangs hat mich das verunsichert, weil ich dachte, es sei nicht professionell. Inzwischen finde ich, es ist Teil der Professionalität, dass ich authentisch und persönlich berührbar bin.
Hat sich auch schon mal jemand Hardrock gewünscht?
Ja, einmal war ich bei einem jungen Mann, der selbst in einer Band gespielt hatte. Er hatte einen Hirntumor und konnte sich kaum noch artikulieren. Ich begann Harfe zu spielen, hatte aber schnell das Gefühl, dass das nicht so gut ankam. Ich habe ihn dann gefragt, ob ich eine CD einlegen soll. Er nickte, und ich habe eine Rock-CD eingelegt und laut aufgedreht. Da war er total selig, hat Gitarrenbewegungen mitgemacht und sich im Takt gewiegt.
Hören Sie öfter mit Patienten gemeinsam Musik?
Ja, denn manchen Menschen ist es zu intim, wenn ich für sie spiele. Aber gemeinsam Musik hören und erzählen möchten sie schon. Ein Mann auf der Palliativstation zum Beispiel hatte eine sehr große Country-Musik-Sammlung. Für jede Woche hat er sich dann überlegt, was er mir vorspielen möchte. Dazu hat er mir aus seinem Leben erzählt. Er hatte alle anderen Angebote abgelehnt und wollte auch keine Gespräche. Aber durch die Musik wurde der Kontakt möglich.
Sind Sie mit dem Kranken grundsätzlich allein?
Meistens, aber nicht immer. Wenn sie es wünschen, können auch Angehörige dabei sein, und wir singen oder musizieren dann zum Beispiel zusammen. Da singen die Kinder für den Vater, oder die Mutter für den Sohn. Das kann für die Angehörigen sehr entlastend sein, weil sie aus ihrer Hilflosigkeit herauskommen und etwas Konkretes für den Kranken tun können.
Haben Sie auch schon im Moment des Sterbens Musik gemacht?
Nicht im Moment des Todes, aber in den letzten Stunden des Lebens. Das waren oft Menschen, die ich längere Zeit begleitet hatte und von denen ich wusste, was sie mögen. Denn da ist oft keine Kommunikation mehr möglich, weil sie nicht bei Bewusstsein sind. Da erfordert es viel Intuition und Einfühlungsvermögen, das Richtige zu spielen. Wenn ich unsicher bin, frage ich die Angehörigen oder beobachte während des Spiels, ob sich zum Beispiel die Atmung beruhigt oder wie die Atmosphäre im Raum ist.
Wurden Sie schon mal gebeten, kurz nach dem Tod für einen Menschen zu musizieren?
Bis jetzt noch nicht – auch, weil es sich terminlich nicht ergab, denn ich komme ja nur einmal pro Woche. Ich würde es aber in jedem Fall machen.
Gehen Sie manchmal zur Beerdigung von Menschen, die Sie begleitet haben?
Bis jetzt nicht, aber ich kann es mir vorstellen. Ein Herr – er lebt übrigens noch – hat mich mal dazu aufgefordert. Er hatte Humor und sagte: Sie kommen doch zu meiner Beerdigung, nicht? Und ich hab gesagt, klar, wenn ich da Zeit hab’, komm ich.
Wie verkraften Sie diese Arbeit eigentlich, die doch ständig mit Verlusten verbunden ist?
Einerseits bin ich sehr spirituell. Ich bin christlich erzogen und praktiziere seit langem Zen-Meditation. Und ich bin überzeugt davon, dass es nach dem Tod weitergeht und dass das Sterben ein Moment des Einswerdens, des Geborgenseins in einem größeren Ganzen ist – letztlich etwas Heiliges. Außerdem empfinde ich es als Geschenk, dass ich für diese Menschen musizieren darf. Denn diese Musik ist ja oft die letzte, die jemand in seinem Leben hört. Dadurch werden diese Momente zu etwas sehr Kostbarem.
Sind Sie offener geworden?
In dieser Situation auf jeden Fall, denn da fallen alle Rollen ab: Wenn sich zwei Fremde treffen, nehmen sie sich normalerweise Zeit, sich kennenzulernen, schauen, wie es beim nächsten Mal ist. Wenn ich zu einem Sterbenden komme, ist klar, vielleicht gibt es kein nächstes Mal. Und da gibt es oft schnell eine große Nähe, und ich fühle mich sehr vertraut.