Die Boys sind heiß, die Eiscreme ist kalt

RETRO Ein Trend geht um: Nostalgiepop erzählt mehr oder weniger ironisch von besseren Zeiten. Das neueste Retroprodukt heißt „Immer die Boys“ und ist von Marla Blumenblatt aus Wien, die jetzt in Berlin lebt

„Was ’ne wilde Sause, brauch ’ne kühle Brause“, singt Blumenblatt mit kieksender Stimme, „Schweiß am ganzen Körper, kommst mit mir nach Hause. Packst du mich aus?“

VON THOMAS WINKLER

Für jeden, der sich fragen mag, wie Berlin denn so ist, hat Marla Blumenblatt einen guten Tipp. Nein, die Hauptstadt ist nicht Start-up-Metropole und Feierzentrale, weder Sehnsuchtsort der Jugend der Welt noch Fluchtpunkt der digitalen Boheme. Nein, meint zumindest Frau Blumenblatt aus Berlin, ihr Wohnort ist kein Hort der Moderne, sondern bloß ein kecker Teenager aus den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit einem wertkonservativen Weltbild.

Das jedenfalls kann man schließen, wenn man „Immer die Boys“, das erste Album der gebürtigen Wienerin und überzeugten Wahlberlinerin, hört. Denn darauf errichtet Blumenblatt, die ihr Geld früher als Tänzerin im Pariser Crazy Horse und in Las Vegas verdient hat, eine Parallelwelt, die so gar nichts mit den aktuell kursierenden Klischees von Berlin zu tun hat. Eine Welt, die mit „Gartenpavillon“ und „rosaroter Badewanne“ ausgestattet ist und in der die Petticoats, die im Takt des Rock ’n’ Roll geschwungen werden, der letzte Schrei sind. Eine Welt, in der die „Boys“ aus dem Albumtitel heiß sind und die Eiscreme kalt ist, in der die „Gangsterbraut“ auf die „große Liebe“ wartet und sich auf dem Grammofon die Schallplatten aus schwerem Vinyl drehen, auf denen „ein kleines Stück vom Glück“ versprochen wird. „Ich will mein Kofferradio zurück“, singt Blumenblatt, und eben auch: „Ich bin wie dein Spiegelbild, Berlin.“

Da wird sich jetzt mancher wundern, der bislang ein anderes, unzweifelhaft zeitgemäßeres Bild von Berlin hatte. Auch die vielen tausend Touristen, die feiernd durch Kreuzberg ziehen und vor dem Berghain Schlange stehen, hatten vermutlich, als ihr Billigflieger in Schönefeld aufsetzte, nicht gerade den Gedanken, sie säßen in einem Rosinenbomber.

Aber dennoch spiegelt sich in den Liedern von Blumenblatt, die ihr hochgestecktes Haar gern mit einem Schleifchen bändigt, fröhlich geblümte Kleidchen trägt und von ihrer Plattenfirma zur „Retro-Pop-Queen der Stunde“ ernannt worden ist, eine durchaus aktuelle Realität von Berlin. Die florierende Electroswing-Szene hat es schon zum Titelthema der Stadtmagazine gebracht und auch ansonsten ist die Stadt von einer Retrowelle sondergleichen erfasst worden, deren Schaumkrone zwar Marla Blumenblatt bildet, die aber generell schon länger auch ohne die 28-Jährige rollt.

Dabei stehen zwar nicht immer – wie bei Blumenblatt – ausdrücklich die Fifties im rückwärtsgewandten Blickfeld, aber retrospektiv geht es auch bei vielen anderen Berliner Bands und Künstlerinnen zu, ob sie nun Petting oder Kitty Hoff, Frau Schmidt, Betty Dittrich, Prag oder Louise Gold heißen. Und noch etwas fällt auf: Der Trend, musikalisch in die Vergangenheit zu blicken, wird mehrheitlich von Frauen getragen.

Die Zeitalter, die von diesen Frauen angesteuert werden, sind allerdings so verschieden wie die musikalische Umsetzung. Kitty Hoff, die dienstälteste Vertreterin der Retrobewegung, bringt seit 2005 Cocktailkirschen zum Swingen und trug anfangs noch Röcke, mit denen man in den zwanziger Jahren Charleston tanzte. Elisa Schmidt, die als Sängerin auf ihren Vornamen verzichtet, inszeniert sich passend zu ihrem Bar-Jazz-Pop als Diva aus den Dreißigern. Betty Dietrich steht als Mischung aus Petula Clark und Conny Froboess an der Schwelle von den Fifties zu den Sixties. Ausschließlich mit Equipment aus diesen beiden Jahrzehnten nehmen die gebürtige Potsdamerin Louise Gold und ihr Quartz Orchestra ihre Alben auf. Auch Petting um Sängerin Malika Ziouech schauen zurück in die Sechziger, aber dabei fällt ihr Blick vor allem auf Frankreich. Für das Trio Prag, bei dem die Schauspielerin Nora Tschirner mitwirkt, sind die Chansons und Schlager der siebziger Jahre die größte Inspiration. Viel heutiger wird es nicht.

Der Blick zurück ist, das muss man zugeben, zwar meist sentimental, aber selten ohne Ironie. Diese Ironie ist allerdings nur selten stärker ausgeprägt wie bei Dietrich und Prag, zeigt sich aber doch unübersehbar zwischen den Zeilen und im leicht überdrehten Auftreten der Protagonistinnen. Auch Marla Blumenblatt wirkt erst einmal wie eine seriöse Kopie einer untergegangenen Dekade, wie eine ehrliche Ehrerbietung an eine Zeit, in der die Welt noch in Ordnung war. Doch nicht nur in ihrer überkandidelten Art konterkariert Blumenblatt diese Rückschau, sondern auch indem sie nicht nur in ihrem der ersten Hit, „Cornetto“, die anzüglichen Anspielungen, die in den Schlagern jener Epoche üblich waren, so überdreht, dass deren Verklemmtheit offenbar wird. „Was ’ne wilde Sause, brauch ’ne kühle Brause“, singt Blumenblatt mit kieksender Stimme, „Schweiß am ganzen Körper, kommst mit mir nach Hause. Packst du mich aus?“.

Trotz solcher Distanzierungen beruht der Erfolg der Retroköniginnen auf der Nostalgie, die sie geschickt bedienen. Dass diesem Konzept ein solcher Erfolg beschieden ist, kann man interpretieren als Reaktion auf unsichere Zeiten, in denen sich der von einer Wirtschaftskrise bedrohte und vom immer schnelleren Leben gestresste Bürger in eine vermeintlich gemächlichere Vergangenheit zurücksehnt. Muss man aber nicht. Vielleicht ist Berlin auch einfach groß genug, um nicht nur angesagt, cool und auf der Höhe der Zeit zu sein, sondern gleichzeitig auch so, wie Marla Blumenblatt es gerne sehen würde.

■ Marla Blumenblatt: „Immer die Boys“ (Four Music/ Sony)