SONJA VOGEL LEUCHTEN DER MENSCHHEIT
: Von Gurken und Natur-gesetzen

Noch zwei Wochen bis zur Bundestagswahl und allenthalben hört man Klagen über den Zustand der Demokratie. Das Parlament sei zu teuer, intransparent und behäbig. Von links bis rechts herrscht dieser pessimistische Demokratiediskurs vor. Beinahe könnte man meinen, die Deutschen hätten die parlamentarische Demokratie aufgegeben. Schlechter beleumundet als die Bundespolitik kurz vor der Wahl ist nur die Politik der EU. Das EU-Parlament, da sind sich alle einig, ist noch undemokratischer und behäbiger.

Auch Henryk M. Broder schlägt mit „Die letzten Tage Europas. Wie wir eine gute Idee versenken“ (Knaus Verlag, 2013) in diese Kerbe. Er beschreibt, wie weit entfernt von der gesellschaftlichen Realität die EU-Maschine oftmals ist. Leidenschaftlich diskutieren Parlamentarier über die beinahe sprichwörtlich gewordene Krümmung von Gurken, während die Wirtschaftskrise die südlichen EU-Staaten in die Armut stürzt, die soziale Spaltung weiter voranschreitet, der Mitgliedsstaat Ungarn weiter in Richtung Faschismus abdriftet. Besonders realitätsfern zeigte sich jüngst der EU-Kommissar László Andor. Armutsmigration, behauptete der schlicht, gebe es in Europa nicht. Hintergrund für diese Lüge war die Beschwerde der westlichen EU-Mitglieder über den Zuzug rumänischer Roma. „Es gibt Naturgesetze, die man nicht ungestraft ignorieren darf“, schreibt Broder. Aber die EU ignoriert die Naturgesetze: die selbstverständliche Bewegung der Europäer aus Staaten ohne soziale Sicherungsnetze in die reicheren Regionen. Da ist es doch beinahe konsequent, wenn die Migranten dann auch in Deutschland ganz unverhohlen von der Politik als Zumutung bezeichnet und vom Straßenmob bedroht werden. Die EU zeigt sich davon unbeeindruckt.

Übrigens bin auch ich in der Oberstufe einmal durch das EU-Parlament in Straßburg gelotst worden. Der Plenarsaal war leer, die Cafés waren voll. Ich bin nie zu einer Europawahl gegangen.

■ Die Autorin ist ständige Mitarbeiterin der Kulturredaktion