: Kein Ende der Armutslöhne
Das Entsendegesetz vom Bau soll nun auch für andere Branchen Mindestlöhne bringen. Gewerkschaften sprechen von „Wirrwarr“ und „Pfusch“
VON ULRIKE WINKELMANN
Auf mittlerweile bewährte Weise hat Franz Müntefering (SPD) übers Wochenende eine weitere politische Debatte fürs Erste abgewürgt. Der Sozialminister verabschiedete sich in der Presse vom gesetzlichen Mindestlohn. Stattdessen, erklärte er in der Financial Times Deutschland, sei ein „differenzierter Mindestlohn für einzelne Branchen“ sinnvoll. Dafür könne das Entsendegesetz ausgeweitet werden.
Unterstützt wurde Müntefering gestern vom SPD-Landtagswahlgewinner Kurt Beck aus Rheinland Pfalz und dem bayerischen SPD-Chef Ludwig Stiegler. Vermutlich nicht zufällig hatte sich auch Peer Steinbrück (SPD) vorher ähnlich geäußert. „Ich kann mir einen bundeseinheitlichen gesetzlichen Mindestlohn bei den völlig unterschiedlichen Produktivitätsverhältnissen von einzelnen Branchen und auch bei unterschiedlichen Lebenshaltungskosten etwa in Stralsund und München nur schwer vorstellen“, sagte der Finanzminister. Gerade wurde aus seinem Haus ein Argumentationspapier bekannt, das vor einem allgemeinen Mindestlohn warnt, weil er die Jobs unterhalb der Mindestlohngrenze vernichten würde.
Aus der SPD-Fraktion war gestern kein Widerwort zu vernehmen. Allerdings erklärte Andrea Nahles, die in der SPD-Fraktionsarbeitsgruppe „Existenzsichernde Löhne“ sitzt, der taz: „Der Abstimmungsprozess ist bei uns erst Ende April abgeschlossen.“
Doch dürften Münteferings Worte dem nun vorgegriffen haben. Dass der Koalitionspartner Union sich für einen gesetzlichen Mindestlohn einsetzt, braucht nicht vermutet zu werden. Absehbar ist dagegen, dass Kanzlerin Angela Merkel und Franz Müntefering die Ausweitung des Entsendegesetzes unter der Bezeichnung „Mindestlohn“ verkaufen. Wie Müntefering sagte: „Beim Lohn darf der freie Fall nach unten nicht eröffnet werden.“
Fraglich ist bloß, ob das Entsendegesetz dies verhindert. Dieses Gesetz gilt bislang vor allem am Bau – also für Gewerke wie Bauarbeiter, Maler, Lackierer, Dachdecker. Es wurde 1996 eingeführt und sollte Lohndumping durch nach Deutschland entsendete ausländische Arbeiter verhindern. Sie müssen seither gemäß dem jeweiligen Tarifvertrag bezahlt werden.
Eine Ausweitung auf andere Branchen hatte vergangenes Jahr schon das rot-grüne Kabinett beschlossen. Der Entwurf versandete dann aber in den Neuwahlwirren. Doch schon damals war klar, dass allenfalls das Gebäudereinigerhandwerk und möglicherweise die Zeitarbeitsfirmen dies nutzen könnten. Denn Voraussetzung für eine gesetzliche Festschreibung des tariflichen Mindestlohns ist erstens die Zustimmung der Arbeitgeber, zweitens öffentliches Interesse und nicht zuletzt ein flächendeckender Tarifvertrag – und den gibt es nur in den wenigsten Brachen.
Gerd Pohl, Chef der Tarifabteilung bei der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) bezeichnet Münteferings Plan deshalb schlicht als „Pfuscharbeit“. Und selbst wenn das Entsendegesetz auf mehr als drei oder vier Branchen auszudehnen wäre – „wie viele Mindestlöhne wollen wir denn?“, fragt er: „hundert, tausend, zehntausend“? Es sei doch klar, dass ein „Wirrwarr“ von möglicherweise hunderten von Mindestlöhnen unkontrollierbar würde.
In dem offenen Eingeständnis, dass sie für ihre Branchen längst keine breitenwirksamen und teils auch keine armutsfesten Tariflöhne mehr aushandeln können, haben die NGG und die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di vergangenen Monat eine Kampagne für einen gesetzlichen Mindestlohn gestartet – mindestens 7,50 Euro für alle.
Thorsten Schulten vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung erklärt, das Entsendegesetz erreiche ausgerechnet diejenigen mit den geringsten Löhnen nicht – sie fielen entweder nicht unter einen Tarif oder unter einen regionalen Armutslohn. Schulten glaubt im Übrigen nicht, dass „Müntefering zum gesetzlichen Mindestlohn nun das letzte Wort gesprochen hat. Denn der Problemdruck bleibt.“