: „Das Oligopol brechen“
KEYNESIANISMUS Der britische Wirtschaftshistoriker Robert Skidelsky macht die „neoklassische“ Wirtschaftstheorie für die Krise verantwortlich. Sie habe vergessen und verdrängt, was sie seit Keynes wissen konnte
■ Lord Robert Skidelsky, 71, ist der führende Wirtschaftshistoriker Großbritanniens. Skidelsky bekleidete ungezählte akademische Stellen, zuletzt war er Professor für Politische Ökonomie an der University of Warwick. Legendär ist seine vielfach mit Preisen bedachte monumentale dreibändige Biografie von John Maynard Keynes. Vor Kurzem erschien im Kunstmann-Verlag sein jüngstes Buch: „Die Rückkehr des Meisters. Keynes für das 21. Jahrhundert“.
INTERVIEW ROBERT MISIK
taz: Lord Skidelsky, wenn man Ihr Buch liest, hat man den Eindruck, die Hauptverantwortung für die Finanzkrise hat die Wirtschaftswissenschaft. Haben uns tatsächlich die Ökonomieprofessoren die Krise eingebrockt?
Robert Skidelsky: Ja, das kann man so sagen. Natürlich gibt es eine Kette der Verantwortlichkeit. Aber ganz an der Spitze steht die dominante ökonomische Idee, dass Regierungen das Problem und Märkte die Lösung seien und dass die Regierungen nicht gebraucht werden in der Wirtschaft, weil Märkte sich selbst regulieren. Das führte zur Deregulierung, zur Konzentration der Makroökonomie auf ein einzelnes Ziel, nämlich Preisstabilität. Aber Märkte sind systemisch instabil, und Volkswirtschaften können Opfer von Schocks werden. Und dann steigt die Arbeitslosigkeit und das Output sinkt. Das ist wie bei einem Ballon, aus dem die Luft raus fährt. Und diese Tatsachen hat die Mainstream-Ökonomie nicht sehen wollen.
Wir nehmen instinktiv an, dass es in der Wissenschaft nur Fortschritt gibt. In der Wirtschaftswissenschaft hat es nun aber Rückschritt gegeben? Die wurde immer dümmer?
Ich denke, doch. Sie hat das meiste vergessen und verdrängt, was sie seit Keynes wissen konnte. Weil es in den Siebzigerjahren Probleme mit der keynesianischen Politik gab, hat man das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Man ist daraufhin zur alten, klassischen Ökonomie zurückgekehrt, die man halt neoklassisch nannte, weil man sie mit gewissen mathematischen Raffinessen verschönert hat. Was wir aber im Grunde jetzt erleben, ist die Wiederauflage der Debatten, die während der Großen Depression geführt wurden. Die Idee vom Fortschritt in der Wissenschaft beruht auf einer Analogie zur Naturwissenschaft, aber in den Wirtschaftswissenschaften ist das anders. Die haben eher einen zyklischen Rhythmus – mal gibt jene Schule den Ton an, mal wieder die andere.
Aber nicht alles ist wieder wie in den Dreißigerjahren. Die Regierungen haben diesmal alles richtig gemacht. Sie haben eben sofort auf keynesianische Maßnahmen umgeschaltet.
Ja, freilich ohne dass sie das Modell akzeptieren würden. Selbst Robert Lucas, der Hohepriester der Neoklassik, sagt: „Wir sind alle Keynesianer, wenn wir im Loch sitzen.“ Man holte jetzt Keynes aus dem Schrank, weil man nicht mehr weiterwusste, aber dann räumt man ihn wieder rein. Und übersehen wir nicht, die Antikeynesianer haben schon wieder ihr großes Comeback, nämlich im Zusammenhang mit Stimulusprogrammen und den Staatsschulden. Sie sagen, es ist jetzt wieder alles okay, und wir müssen nun mit der Konsolidierung anfangen. Aber ich würde sagen, die hohen staatlichen Defizite sind die andere Seite des zunehmenden Sparens des privaten Haushalte. Man kann nicht beide Sektoren gleichzeitig sanieren. Dass das nicht verstanden wird und heute die Defizite als das Schlimmste angesehen werden, zeigt, dass Keynes noch kein wirkliches Comeback hinter sich hat.
Die Gefahr ist, dass man Keynesianismus als Idee für schlechte Zeiten ansieht?
Ja, exakt. Natürlich, es gibt gewisse Lernprozesse. Jeder sieht jetzt, welche Gefahr von den Banken ausgehen kann, dass das System besser reguliert werden muss. Aber die meisten Ökonomen und Politiker sind sehr zurückhaltend, zuzugeben, dass man das Bankensystem auseinanderbrechen muss. In Geschäftsbanken hier und Investmentbanken da. Es ist auch die Macht des Finanzsektors, die jede Reform verhindert. Man muss dieses Oligopol brechen.
Kann es sein, dass die Politiker schon wissen, in welche Richtungen die Lösungen gehen müssten, aber schlicht keine Ahnung haben, auf welchem Weg man dahin kommt, ohne das Finanzsystem für eine gewisse Zeit lahmzulegen?
Nun ja, das europäische Bankensystem ist in einem anderen Zustand als das amerikanische und britische. Aber prinzipiell ist das schon richtig, dass man in der Krise sehr schwer strukturelle Reformen machen kann, weil man erst einmal aus der Krise rauskommen muss.
Viele Leute sagen, es geht nichts voran mit der Finanzregulierung. Das ist aber, wenn ich Sie richtig verstehe, gar nicht so schlimm?
Das ist eine wirkliche Frage staatsmännischer Klugheit. Politisch ist es sicher nützlich, das Momentum einer Krise für radikale Reformen zu nützen, ökonomisch ist es viel klüger, dass wir uns erst einmal aus der Krise rausarbeiten und dann reformieren. Daran sieht man übrigens wieder einmal, dass es verdammt schwer ist, ein guter Politiker zu sein. Aber es ist klar: Wir müssen das Finanzsystem viel strenger regulieren.
Was ist der Kern keynesianischer Wirtschaftstheorie?
Zunächst hat Keynes viel stärker als viele seiner zeitgenössischen Kollegen die Unsicherheit betont: Unsicherheit macht die Ökonomie instabil, Unsicherheit führt zur Abnahme der Investitionen, sie führt dazu, dass eine Volkswirtschaft unter ihren Potenzialen bleibt, und damit zu Arbeitslosigkeit. Zweitens: Er zeigte, dass Märkte nicht effizient sind, dass sie massiv auf Schocks reagieren, die Output und ökonomische Aktivität einschränken und die gesamte Wirtschaft weit zurückwerfen – und dass es, wenn das einmal geschieht, keinen automatischen Weg heraus gibt. Und drittens hat er gezeigt, dass wir makroökonomische Politik brauchen, die darauf abzielt, einen hohen Level von Aktivität zu gewährleisten: durch öffentliche Investitionen etwa, oder durch eine gewisse Umverteilung, die stabile Nachfrage aufrechterhält.
ROBERT SKIDELSKY
Wie sehr sollen sich Regierungen in den nächsten Jahren in die Wirtschaft einmischen?
Sehr. Aber ich denke nicht, dass der Staat jetzt wieder die Eigentümerrolle von Unternehmen übernehmen soll. Das ist nicht nötig. Aber es braucht viel Public-private-Partnership, und der Staat muss langfristige Investitionen planen – Investitionen in Energieeffizienz, in ein neues Energiesystem und viele andere Infrastrukturinvestitionen.
Das heißt, der Staat muss zahlen und sagen, was wir brauchen – und die Unternehmen fördern, die das dann herstellen?
Nicht einmal das: Es reichen oft staatliche Garantien, damit Investoren gefunden werden. Nehmen wir nur Pensionsfonds: Die haben ein Interesse an stabilen, langfristigen Gewinnen. Solche Investoren kann man für langfristige Investitionen gewinnen, aber der Staat muss das anschieben und sich engagieren.
Sie schreiben von den goldenen Jahren stabiler Prosperität zwischen 1950 und 1975. Kann man das Rad überhaupt noch zurückdrehen?
Nun, ich bin mir nicht sicher. Das Zentrum der Dynamik ist nach Südostasien ausgewandert und Europa muss sich vielleicht mit weniger abfinden. Und grundsätzlich haben sich unsere Gesellschaften sehr gewandelt, sodass ein einfaches Zurück weder denkbar noch wünschenswert ist. Aber Keynes hatte doch diese tolle Idee, die er in seinem berühmten Essay „Die wirtschaftlichen Aussichten unserer Enkelkinder“ ausführte. Darin schreibt er, dass wir immer reicher werden, sodass materielle Bedrückung bald der Vergangenheit angehören kann. Und wenn die ökonomische Frage mal geklärt ist, können wir uns den glücksbringenden Dingen des Lebens widmen. Man muss nicht immer mehr haben, das macht nicht glücklicher. Vielleicht steht uns in Europa ein solches Zeitalter ohne weitere Zuwächse, aber mit mehr Freizeit und Glück bevor. Keynes jedenfalls war mehr als „bloß“ ein Ökonom, er war auch ein Ethiker, der immer die Frage im Auge hatte: Wofür ist der Wohlstand denn eigentlich da?