: Das Land der grauen Schläfen
Schleswig-Holstein ist vom demographischen Wandel besonders betroffen: Wegen des Geburtenrückgangs, wegen der Abwanderung junger Menschen nach Hamburg und wegen des Trends zum Altersruhesitz zwischen den Meeren. Ein Ausblick
von Esther Geißlinger
Es ist kein weiter Weg vom Heider Marktplatz bis zum Treffpunkt des „Goldie Clubs“ in der ehemaligen Grundschule Blumenstraße, aber er dauert lange. Denn seit im Jahr 2015 die RiLSa, die Richtlinien für Signalan lagen, geändert wurden, dauert jede Ampelphase altengerecht genau doppelt so lange wie früher. Der Verkehr fließt an diesem Apriltag des Jahres 2020 langsam durch die Kreisstadt Heide. Aber das macht nichts: Die meisten Leute hier haben viel Zeit.
Dithmarschen im Jahr 2020: Das ist der Kreis in Schleswig-Holstein, der durch den demographischen Wandel am meisten Junge eingebüßt hat. Im Vergleich zu 2003 lebt hier ein Viertel weniger Unter-20-Jährige.
Aber Schleswig-Holstein sieht insgesamt ganz schön alt aus: Im Jahr 2020 gibt es zwar ebenso viele Menschen im Land zwischen den Meeren wie am Anfang des 21. Jahrhunderts. Aber davon sind 30 Prozent, 853.000, über 60 Jahre alt. Das hat Folgen für alle und alles: Schulen und Kindergärten stehen leer, dafür herrscht Bedarf an Freizeitaktivitäten, die 70- und 80-Jährigen Spaß machen.
Viele von denen, die sich an diesem Apriltag im Jahr 2020 im „Goldie Club“ treffen, mögen Bingo. Mit etwas Glück lässt sich dabei ein Stück Fleisch gewinnen, ein Luxus in Zeiten sinkender Renten. Aber der „Goldie Club“ dient nicht nur dem Zeitvertreib: Er ist eine Info- und Tauschbörse für Hilfen aller Art.
Denn Altwerden auf dem Lande ist nicht leicht. In den Dörfern gibt es kaum Läden, es fahren selten Busse. Die einzige Chance: Selbsthilfe. So rollen „Bürgerbusse“ durch das Land – Ehrenamtler teilen sich den Dienst am Steuer. Entwickelt hat dieses Modell bereits am Anfang des Jahrhunderts ein Verein im Kreis Segeberg. Die Busse fahren nicht, wie früher, zu Schulzeiten, sondern sie steuern am späten Vormittag die Dorfzentren an. Dort warten bereits diejenigen Mitglieder der Rentner-WGs, die an diesem Tag mit dem Einkaufen dran sind.
Schleswig-Holsteins Bevölkerung ist noch bis zum Jahr 2010 gewachsen – unter anderem, weil seit 2004 rund 186.000 Menschen zuwanderten, darunter etwa 56.000 aus Hamburg. Viele von ihnen pendeln aus dem Speckgürtel zur Arbeit in die Großstadt. Andere Neubürger sind bereits im Rentenalter und wollen in einer Idylle hinterm Deich oder in einem beschaulichen Städtchen ihren Lebensabend verbringen – Plön ist unter den grauen Zuwanderern beliebt. Die meisten der Alten leben zwar allein oder zu zweit, doch es entstehen auch Wohngemeinschaften mit Gleichaltrigen. Denn zu mehreren lässt sich der Alltag leichter bewältigen, auch dann, wenn Pflege nötig wird. Fachkräfte dafür sind begehrt, es herrscht sogar Mangel an ihnen – Schleswig-Holstein hofft auf junge, ausländische Arbeitskräfte: Sie können den Alterungstrend verlangsamen. Wohnraum ist billig zu haben. Gerade in kleinen und mittleren Städten stehen Wohnungen und Häuser leer. Leider sind nicht alle geeignet für die Bedürfnisse der Grauen, daher müssen einige Gebäude abgerissen und neue gebaut werden.
Klar ist: Pflegeheime sind keine optimale Möglichkeit – weder für die Alten noch für den Staat. Denn dafür sind die Zahlen zu hoch: Über 50.000 Demenzkranke leben 2020 schon in Schleswig-Holstein. Heimplätze für alle? Unbezahlbar. WGs oder Generationen übergreifende Wohnprojekte sind eine Alternative.
Den Mitgliedern des Heider „Goldie Club“ geht es noch so gut, dass sie anderen helfen können: Sie organisieren die Bibliothek, geben jungen Arbeitslosen Nachhilfe am PC und gehen mit den ganz Alten spazieren. Damit vertreiben sie sich nicht nur die Zeit, sondern verdienen auch Geld –denn wie heißt der aktuelle Schlager von „Peking Motel“: „Mit 88 Jahren, da fängt das Leben an.“
Die Zahlen stammen aus Veröffentlichungen der Landesregierung, vor allem der Broschüre „Schleswig-Holstein im demographischen Wandel“.