WIE HILFREICH SIND BRITISCHE MANIERISMEN IN BERLIN?: Out of London
VON JULIA GROSSE
Kürzlich las ich von einer Amerikanerin, die nach zehn Jahren London wieder zurück nach New York ging und schon im Flugzeug begann, den Briten und ihren entzückenden Manierismen hinterherzuflennen. Das zwanghafte „So sorry!“-Sagen, obwohl man doch gerade selber angerempelt wurde. Das fast kulthafte Verhältnis zu Popkultur, zu Glamour und Maskerade (Königshaus, Dress-up-Partys, Reenactment-Events). Die Männer in Tweed und maßgeschneiderten, fetischhaft gepflegten Schnürschuhen. Die jungen Frauen in 30-cm-Plateauschuhen zu violetten Knisterkleidern und keinen Strumpfhosen bei 3 Grad im Januar. Junge Büroangestellte, die nur deshalb eine Woche lang sichtbar genervt einen Schnäuzer tragen, weil irgendeine Charity-Mottowoche „Schnurrbärte für einen guten Zweck“ vorschreibt und alle mitziehen, weil alle mitziehen.
Seit einem Monat bin ich wieder in Deutschland und mit der Distanz zur Insel wird mir plötzlich klar, warum die Briten diese ständige Übersteigerung, die Welt als Dauerentertainmentschleife so brauchen: Sie lassen die Härte, das Tempo, die ständig geforderte Flexibilisierung ihres Alltags gleich ein wenig lustiger aussehen, indem sie sich einfach ganz eng an den ganzen Wahnsinn heranschmeißen und mit ihm ein ewiges Tänzchen aufführen. Statt sich aufzuregen, wie grotesk die Maskerade des Königshauses im 21. Jahrhundert ist, setzt man dem Spektakel eins drauf und wirft sich an Wochenenden einfach noch eine Spur absurder in Schale.
Das mag nach außen affirmativ, unkritisch und vergnügungssüchtig wirken, ist tatsächlich aber der reine Selbsterhaltungstrieb. Die Briten haben begriffen, dass es sich im Innersten des ganzen rohen Wahnsinns ihrer Kultur eventuell sogar am ruhigsten und entspanntesten leben lässt. Je näher sie dran sind an der Popkultur, die im Grunde ja alles umfasst, von der Queen über Premier Cameron bis James Bond, desto weniger Abstand für aufreibenden Zynismus gibt es. Einen Zynismus, den ich mir als Außenstehende in London nie wirklich verkneifen konnte.
Die Amerikanerin hat recht! Nun, out of London, vermisse auch ich die britischen Manierismen. Und bin fest entschlossen, dieses britische, megapositive Performancewerkzeug ab sofort im reservierten Berlin anzuwenden. Perfekter Plan! Grummelige Rentner rempeln mich an? No problem! Sie bekommen ein freundlich-entschuldigendes „Sorry!“ von mir zu hören. „Ganz ehrlich? Dieses ‚Werkzeug‘ kannst du in Berlin nicht gebrauchen“, sagte eine Freundin. Wieso? „Na, weil man in Berlin an Bahnsteigen und überhaupt überall in der Hauptstadt schon einmal genügend Platz hat, um sich im Grunde gar nicht erst anzurempeln. Für exaltierte Wochenendkostümierungen mit 30-cm-Plateaustöckeln sind die Bürgersteige hier zu abenteuerlich. Und Popkultur kannst du hier natürlich gar nicht erst kulthaft verehren, weil es keine gibt.“
■ Julia Grosse ist freie Publizistin in Berlin
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