WOLFGANG GAST LEUCHTEN DER MENSCHHEIT : Generalrevisor Kellerhoff auf dem Eisberg
So viel Einigkeit ist selbst zwischen Autor und Buchvorsteller selten. „Selbstgerecht“ seien sie, diese Achtundsechziger, empört sich der Laudator Hubertus Knabe, Leiter der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, des früheren Stasi-Knasts. Die „oberlehrerhafte“ Haltung dieser 68-Klientel nerve ihn, noch schlimmer aber sei deren „brutale Herangehensweise“ an andere Meinungen.
Herzlich willkommen, es ist Montagabend, wir sind bei der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin. Ein Buch wird vorgestellt. Sven Felix Kellerhoff hat es verfasst, und es trägt den Titel „Die Stasi und der Westen. Der Kurras-Komplex“ (Hoffmann und Campe, 2010). Was die Besucher erwartet, wurde im Einladungsschreiben bereits deutlich. „Der Fall Kurras ist nur die Spitze des Eisberges: Wie die Bundesrepublik unterwandert wurde. Mit einem Vorwort von Stefan Aust“.
Ein Vorwort des großen RAF-Erklärers Stefan Aust ist auch nach längerem Suchen in dem Buch des Leitenden Redakteurs für Zeit- und Kulturgeschichte beim Springer-Verlag nicht zu finden. Dafür liest man in der Einleitung Kellerhoffs den bemerkenswerten Satz: „Die Enthüllung des DDR-Spitzels Karls-Heinz Kurras wirft die Frage nach dem Einfluss der Stasi und ihrer Auftraggeberin, der Staatspartei SED, auf die Politik der Bundesrepublik vollkommen neu auf.“ Vermeintliche Gewissheiten, die von den Achtundsechzigern verbreitet würden, gehörten auf den Prüfstand. Notwendig sei eine „Generalrevision der bundesdeutschen Geschichte bis 1989/90“.
„Generalrevision“? Der Polizist Karl-Heinz Kurras erschoss am 2. Juni 1967 – der Schah von Persien weilte gerade zu Besuch in Berlin – bei einer Protestdemonstration den Studenten Benno Ohnesorg. Das Datum gilt als eines der maßgeblichen für den Aufbruch der Studentenbewegung, da die Justiz den Todesschützen einfach freisprach und die „repressive“ Bundesrepublik weiter lieber jede innere Reformbestrebung bekämpfte.
Letztes Jahr wurde der westdeutsche Polizist Kurras überraschend als IM der ostdeutschen Stasi enttarnt. Warum nun die Geschichte der Studentenbewegung komplett neu geschrieben werden müsste, blieb an diesem Abend ein Rätsel.
■ Wolfgang Gast hat sich für die taz kürzlich durch die freigegebenen Kurras-Akten gekämpft Foto: privat