Zwang zum Lesen

Eine gelungene Erzählung ist nur der Nebeneffekt einer genauen Analyse. Sigmund Freud hat es vorgemacht. In seinen essayistischen Erzählungen werden Figuren nicht erfunden. Sie werden erforscht

VON STEPHAN WACKWITZ

Sigmund Freud ist ein großer Erzähler. Seine Psychoanalysen erfüllen alle Anforderungen an Literatur. Aus ihnen lassen sich Regeln für eine gelungene Geschichte ableiten. Somit ist der Schriftsteller Sigmund Freud auch ein Glücksfall für die Theorie des Erzählens. Als Leser und Autor kann man von ihm eine Menge lernen.

In den 1895 erschienenen „Studien über Hysterie“ äußert sich Sigmund Freud selbst einigermaßen verwundert über seinen eigenen Erzählstil. Er habe zwar eine medizinische Ausbildung genossen und verstehe sich entschieden als Naturwissenschaftler, aber „die Krankengeschichten, die ich schreibe, sind wie Novellen zu lesen“.

So lesbar sind seine Analysen, „dass sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren“. Dies aber, fährt er fort, sei nicht seine Schuld. Er sei ein Erzähler wider Willen. Er habe diese Texte geschrieben, „weil eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist, mir gestattet, bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch eine Art von Einsicht in den Hergang einer Hysterie zu gewinnen“.

Ich habe, besonders bei zeitgenössischer Literatur, als Leser immer das Gefühl gehabt, dass der Autor eigentlich ganz gut daran täte, sich eine ähnlich einleuchtende Rechtfertigung für sein Tun einfallen zu lassen wie Freud in jener erklärenden, fast entschuldigenden Passage seiner „Studien über Hysterie“. Denn es ist ohne eine gute Begründung gar nicht so leicht einzusehen, warum man als hergelaufen-zeitgenössischer Autor einem Leser die Zeit stehlen darf, die es braucht, einen Bildungsroman des 21. Jahrhunderts zu lesen. Hat dieser potenzielle Leser doch möglicherweise die „Éducation Sentimentale“ von Gustave Flaubert noch gar nicht gelesen.

Die einzige Rechtfertigung, die man hier mit einiger Aussicht auf Überzeugungskraft anführen kann, ist dieselbe, die Freud zur Begründung seiner psychoanalytischen Novellen anbietet. Dass nämlich „eine Art von Einsicht“ nicht anders zu bekommen ist als durch die Anwendung eines erzählerischen Verfahrens. Bedeutende fiction, so könnte man sagen, pocht nicht auf Inspiration. Sie lässt sich vielmehr Gründe für ihr Erzählen einfallen, die zur Not auch vor Ansprüchen der non-fiction bestehen könnten. „Diese Beschränkung bestimmt die Stellung, welche wir jetzt in unserem heutigen Leben der Kunst anzuweisen gewohnt sind. Uns gilt die Kunst nicht mehr als die höchste Weise, in welcher die Wahrheit sich Existenz verschafft“ , schrieb Hegel im frühen 19. Jahrhundert.

Ich habe mich neulich mit dem britischen Kunst- und Fotografiehistoriker Ian Jeffrey unterhalten und mir besonders gemerkt, was er über Perioden seiner Ansicht nach bedeutender Fotografie zu sagen wusste: dass die nämlich geprägt seien durch einen besonderen und unabweisbaren sense of urgency. Dieser komme durch den inneren und äußeren Zwang zustande, Bilder zu machen, die etwas festhalten oder mit deren Hilfe man sich über etwas Außerkünstlerisches klar werden kann. Dies, so Ian Jeffrey weiter, fehle der zeitgenössischen Fotokunst. Es fehlt auch, so kann man hinzusetzen, sehr vielen zeitgenössischen Erzählern.

Künstlerisch bedeutendes Fotografieren und Erzählen, dieses Paradox könnte man demnach guten Gewissens vorläufig einmal hinstellen, braucht einen außerkünstlerischen Anhaltspunkt. „Wie lebt der Mensch? Auf diese Frage suchen wir eine Antwort in der Literatur“, schrieb der Publizist Walter Klier kürzlich. Erzählen, das den Lektüreaufwand lohnt, kommt zustande, wenn man etwas herausbekommen will. Es ist ein Nebeneffekt. Vielleicht hat deshalb Walter Benjamin seinen Wahlverwandtschaften-Aufsatz (einen Essay, den man sonst ja eigentlich überhaupt nicht recht begreift) mit dem wundervollen und sofort einleuchtenden Bonmot eingeleitet, dass „der Wahrheitsgehalt eines Werkes, je bedeutender es ist, desto unscheinbarer und inniger an seinen Sachgehalt gebunden ist“.

Vielleicht sind deshalb die bedeutendsten Filme zum Beispiel der Brüder Coen oder Martin Scorseses hochinformierte und detailgenaue Milieuschilderungen (die großen Gangsterfilme Scorseses beruhen ja auf Memoiren oder literarischen Lebensbeichten; in „Raging Bull“ und in „Goodfellas“ hat die Hauptfigur sogar als Berater unmittelbar mitgearbeitet). „Casino“ ist deshalb ein so viel wichtigerer Film als „Kundun“, weil „Casino“ einen so großen dokumentarischen Wert hat. Derselbe Zusammenhang (Benjamin hat ihn, ein bisschen großsprecherisch-geheimnisvoll, in seiner literarischen Untersuchung als „jenes Grundgesetz des Schrifttums“ postuliert) waltet zwischen „Fargo“ und „Millers Crossing“.

Und es ist dasselbe Wissen um die Notwendigkeit der Geschichte beim Schreiben und beim Lesen, den wir in den psychoanalytischen Erzählungen Sigmund Freuds bewundern. Freud wollte gar nicht erzählen. Er musste es. Er war ein bedeutender Novellist und Romanschriftsteller wider Willen. Und gerade aufgrund des sense of urgency, der aus dem wissenschaftlichen Ethos in bedeutende künstlerische Werke eingewandert ist, kann man den Eindruck haben, dass die große Roman- und Novellenliteratur des französischen 19. Jahrhunderts in der „Traumdeutung“, im „Mann Moses“ oder in Freuds psychoanalytischen Novellen fortgesetzt wird und nicht bei, sagen wir, Jakob Wassermann.

Das Gegenbeispiel Thomas Mann bestätigt meiner Ansicht nach die These bei näherem Hinsehen übrigens. Er ist Dokumentarist. Und das nicht nur in den „Buddenbrooks“, sondern auch im „Zauberberg“ und vor allem im „Doktor Faustus“ so viel stärker als etwa in der Joseph-Trilogie, für die sein Autor doch eher einen nur sehr vermittelten, eben nur einen rein geschichtsphilosophisch-literarischen sense of urgency geltend machen kann. (Thomas Mann kannte sich, naturgemäß, im Schwabing der Zwanzigerjahre auch so unvergleichlich viel besser aus als im alten Ägypten.)

Es ist überhaupt ein Erzählen zweiter Ordnung, von dem hier die Rede ist. Es kann sich auf Freuds Novellen etwa so berufen wie die Kubisten auf Cézanne. Es erfindet seine Figuren nicht, sondern er erforscht sie. Essayistisch könnte dieses Erzählen genannt werden, weil der Essay, in der berühmten Formulierung von Georg Lukács „immer von etwas bereits Geformtem oder bestenfalls von etwas schon Dagewesenem“ spricht. „Es gehört also zu seinem Wesen, dass er nicht neue Dinge aus einem leeren Nichts heraushebt, sondern bloß solche, die schon irgendwann lebendig waren, aufs Neue ordnet.“ Wenn man genau hinschaut, bemerkt man den Einfluss des Erzählers Freud nicht nur bei Alexander Kluge und Michael Rutschky, sondern auch bei W. G. Sebald oder John Coetzee.

Nehmen wir an, Sie seien sehr unglücklich verliebt in eine Frau, die Sie (mit welchem Recht auch immer) für vollkommen hysterisch halten. Lesen Sie in dieser Stimmungslage einmal die großen psychoanalytischen Fallbeschreibungen Freuds, von den schon erwähnten „Studien über Hysterie“ über die Geschichte vom „kleinen Hans“, vom „Wolfsmann“. Sie werden über Tage nicht mehr damit aufhören können. Es ist wie Stephen King. Nur dazu noch großartig geschrieben, dramaturgisch ausgefuchst erzählt und voll der wunderbarsten intellektuellen Einsichten und Kunststücke. Ihr Fasziniertsein wird dabei gar nicht nur zurückgehen auf den bekannten, der Hypochondrie verwandten Effekt, den alle psychologischen Fallgeschichten auslösen können: auf das Phänomen, dass man in solchen Berichten sich selbst so oft erkennt oder das Problem, das einen gerade umtreibt. Sie würden in Freuds Novellen weder sich selbst noch Ihre Geliebte wirklich wiedererkennen können (der neurotische Stil des späten 20. Jahrhunderts unterscheidet sich zu grundlegend von dem des frühen; Ödipuskomplex und Sexualneurose damals, narzisstische Störung heute).

Spezifisch erzählerisch bedeutend und rührend werden Sie bei der Freud-Lektüre vielmehr das abenteuerliche Schauspiel einer Intelligenz und Einfühlungsgabe finden, die sich auf den schlimmsten Unsinn und das unerklärlichste, verbohrteste Unglück einerseits vollkommen einlässt, andererseits sich selbst bewahrt, unterscheidet und deshalb, wenn es gut geht, den Wahnsinn erlösen kann.

Es sind Geschichten über Abgründe, und sie führen über Abgründe hinweg. So, denke ich als Leser von Freud angesichts dieser krausen und sich plötzlich dennoch enträtselnden Symptome dann immer, wird es mit mir und den Meinen auch ausgehen. Man wird unterhalten, belehrt und getröstet. Die Zeit ist vergangen, ohne dass man es gemerkt hätte (und in der Erinnerung trotzdem viel genauer präsent, als hätte man nicht gelesen; Proust hat auf dieses Paradox aufmerksam gemacht). Man hat alles erlebt, was ein Leser großer und schöner erzählender Literatur erleben soll.

Vielleicht könnte man es als Kriterium ansehen für den sense of urgency, den Flaubert an Freud vererbt zu haben scheint, dass es uns mit bedeutenden und notwendigen Büchern so geht wie mit den Erzählungen eines Freunds über ein Lebensproblem (wiederum eine unglückliche Liebesgeschichte zum Beispiel), die wir uns auf einem langen Spaziergang anhören. Das ganz fraglose und über alle Mängel an erzählerischer Eleganz hinwegtragende Interesse am Thema. Die mühelose Identifikation, die jedoch nicht zur Verschmelzung weiterschreitet (die Erzählung könnte sonst nicht gelingen), das unbemerkte Vergehen der Zeit, die innere Bewegung und das Gefühl der Katharsis aufseiten des Erzählers und des Zuhörers, wenn man, vielleicht schon ein bisschen durchgefroren und jedenfalls auf eine gute Art müde, dann schließlich in einem Gasthaus sitzt und ein Bier bestellt.

STEPHAN WACKWITZ, Jahrgang 1952, ist Schriftsteller und Essayist – und Leiter des Goethe-Instituts in Bratislava. Von ihm erschien unter anderem „Selbsterniedrigung durch Spazierengehen“ (2002), sowie zuletzt „Neue Menschen“ (2005)