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Archiv-Artikel

Ein Tod in der DDR

Er war ein Hippie, und er lebte in der DDR. Eine schlechte Kombination. Vor 25 Jahren starb Matthias Domaschk in Stasi-Haft

von KAI SCHLIETER

Niedliche Trabis und Spreegurken – die sechzehn Jahre nach dem Mauerfall haben das Bild von der DDR im kollektiven Gedächtnis weichgespült. Rüstige Stasi-Rentner wie Dieter Lehmann stehen wieder stolz zu ihrer Vergangenheit. Am 11. November 2004 schreibt er dem Jenaer Bürgermeister empört, dass er „als ehemaliger Leiter der Bezirksverwaltung Gera“ eine Gedenktafel nicht hinnehmen könne. Es geht um eine Straßenbenennung, zur Erinnerung an Matthias Domaschk, der 1981 im Stasi-Knast unter ungeklärten Umständen ums Leben kam. Seine Geschichte ist eine Parabel von dienstbeflissener Profilierungssucht und von der paranoiden Angst eines Systems vor dem Unbekannten. Es ist eine Geschichte von ungesühnter Schuld und dem schwierigen Umgang mit der Vergangenheit. Sie beginnt mit einem Foto.

Matthias Domaschk hebt mit geschlossenen Augen seine Arme, als könne er über dem Kopfsteinpflaster schweben. Befreit lächelt er in den Himmel über Jena. Diese ostdeutsche Sommerwelt des Jahres 1974 – in diesem Moment mag er glauben, sie böte alle Freiheiten. Die Wünsche eines 17-Jährigen sind noch nicht zurechtgestutzt vom Leben. Matthias Domaschk ist ein Hippie mit Mundharmonika in der Hosentasche. Hinter den langen Haaren erinnert sein Gesicht an David Gilmour von Pink Floyd. „Ein Tramper und Träumer“, „sensibel“, sagen seine Freunde über ihn. Und: „Völlig harmlos war der Matz.“ Kein Rädelsführer, und dennoch verändert er ihr aller Leben, und er verändert diesen Staat.

Vor fast exakt 25 Jahren: Es ist der 12. April 1981. Ein kalter Tag. Matthias Domaschk liegt auf dem Rücken, seine linke Ferse zeigt an die Decke, die Finger der linken Hand sind gekrümmt, sein Mund steht offen, seine Augen sind geschlossen. So steht es im Obduktionsbericht. Matthias Domaschk stirbt an diesem Tag im Stasi-Knast Gera. Das Letzte, was er in seinem kurzen Leben sieht, sind zehn Quadratmeter einer biederen Amtswirklichkeit, begrenzt von Holz- und Gittertüren: blaue Stoffsessel, ein Tisch mit ockerfarbener Häkeldecke, blau-rot gemusterte Auslegeware und eine Schrankwand „Leipzig 4/1“. Domaschk, behaupten sie bis heute, habe sich umgebracht. Er war 23 Jahre alt.

Der Versuch, ihn aus dieser frisierten Vergangenheit zu holen, beginnt in Wiesbaden. Renate Ellmenreich hat sich in ihrer neuen Wohnung eingerichtet. Sie ist eine nachdenkliche Frau mit kurzen, dunklen Haaren. Matthias Domaschk ist der Vater ihrer Tochter. Sechs Jahre forscht sie nach der Wende in der Stasiunterlagenbehörde, sie ist dort angestellt. Sie sucht Klarheit, will Sühne, die Männer im Rechtsstaat hinter Gittern sehen, den Toten rehabilitieren und die These von seinem Selbstmord zu Fall bringen. Es wird ein Kampf gegen bürokratische Windmühlenflügel, der sie an den Rand ihrer psychischen Belastbarkeit bringt. Sie verlässt vorübergehend das Land, geht als Missionarin nach Afrika. Nun ist sie wieder hier und erzählt von jenem 20. November 1976, als aus dem Bürger Matthias Domaschk eine Feindperson wird.

Auslöser ist die Ausbürgerung ihres Bekannten, des Liedermachers Wolf Biermann. Eine Gruppe junger Jenenser trifft sich am Abend. Sie sind empört über diesen Staat, bei dem sie immer wieder anecken, den sie aber von innen reformieren wollen. 58 von ihnen unterschreiben die Protestnote, von prominenten Schriftstellern verfasst. Unter ihnen Matthias Domaschk und Renate Ellmenreich. Auch ihr Bekannter Dietrich Große ist dabei. Was sie nicht wissen: Große ist Späher der Stasi. Intern trägt er den Namen IM „Helmut Falke“. Trotz der Kälte in dieser Novembernacht lässt er nach dem Treffen keine Zeit verstreichen und macht sich sofort auf den Weg. Zu ungeheuerlich, was er erlebt hat. Es ist 1.15 Uhr, als er Am Anger 13 ankommt. Der Apparat der Kreisdienststelle (KD) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Jena beginnt zu rotieren. Um 5 Uhr stehen die Maßnahmepläne, um 6 Uhr beginnen die Verhaftungen. Vorgabe: „Hart durchgreifen.“ Acht der Unterzeichner landen für je ein Dreivierteljahr im Gefängnis, sieben werden später in den Westen abgeschoben. Als die Stasi Renate Ellmenreich und ihren Freund abholt, summt Matthias Domaschk ein Lied von Biermann: „Lass dich nicht erschrecken“. Dann trennen sie sich.

Man bringt Renate Ellmenreich in einen weiß gekachelten Keller. Hier begegnet sie erstmals Horst Henno Köhler. Der schwarzhaarige Mann blafft sie immerfort an. Major Herbert Würbach kommt hinzu und übernimmt den Part des Verständnisvollen: „Komm, Mädchen, sag was. Wir wollen doch alle nach Hause.“ Sie bestätigt, was sie ohnehin schon wissen.

Zu Hause findet sie die Wohnung im Chaos vor. Die Tagebücher, die sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr geschrieben hat, sind fort. Ihr Privatleben ist fort. Nicht mehr ihres. Domaschk sagt bei den Verhören mit Horst Köhler nichts. Hier schweigen zu können hat er mit Jürgen Fuchs geübt, später einer der prominentesten Dissidenten der DDR („Gedächtnisprotokolle“, 1977). Es ist nicht leicht, wenn einen die ganze Zeit jemand anbrüllt. Dann hört Domaschk Frauenschreie. Schreckliche Schreie. Er denkt, es ist Renate. Sie ist schwanger. Und er beginnt zu reden. Domaschk kann die Perfidie nicht ahnen: Die Schreie kommen vom Tonband. Um acht Uhr darf er gehen. Wie auf Schienen gelenkt verläuft von hier an sein Leben. Protokoll der Stasi: „Absehen von der Einleitung strafrechtlicher Maßnahmen mit dem Ziel der Prüfung der Möglichkeit der operativen Nutzung sowie Zersetzung der feindlich-negativen Gruppierung.“

Auf dem Nachhauseweg trifft Matthias Domaschk seine Freundin. An seinen Augen erkennt sie, dass er nicht fassen kann, sie zu sehen. Weiß wie ein Laken wird sein Gesicht. Horst Köhler hat ihn gelinkt. Das Schwein. Er wird ihn ein weiteres Mal treffen. Fast fünf Jahre später, kurz vor seinem Tod.

Die Staatssicherheit eröffnet gegen Renate Ellmenreich und Matthias Domaschk den Operativen Vorgang „Kanzel“. Die Geheime Verschlusssache des Ministeriums für Staatssicherheit Nr. 100/76 aus dem Jahr 1976 verdeutlicht, was ein Operativer Vorgang (OV) bezweckt: „Systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben; systematische Organisation beruflicher und gesellschaftlicher Misserfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens einzelner Personen; Erzeugung von Misstrauen und gegenseitigen Verdächtigungen innerhalb von Gruppen.“

Matthias Domaschk fehlt der sozialistische Klassenstandpunkt. Er ist ein Fremder in diesem Nischenstaat, in dem die Bürger funktionieren müssen: Trägt lange Haare und Schlaghosen. Liest wie besessen. Er und seine Freunde tauschen Mitschnitte von „RIAS Treffpunkt“ und „Pop-Sunday“ aus. Er ist lebensfroh, sensibel. Wach und offen, bei Problemen einer, der herausfinden will, wie damit umzugehen ist. So beschreibt ihn Renate Ellmenreich.

Es zieht ihn zur Jungen Gemeinde (JG), wo er dem Lyrikkreis angehört. Der schlaksige junge Mann ist zuständig für das Versteck der Bibliothek im Hinterhaus am Steinweg. Hundert verbotene Bücher. Ein Schatz. Matthias und Renate veranstalten Lesungen. Ihr Traum von einem reformierten Sozialismus zerschellt immer wieder am real existierenden. Vier Wochen vor seinem Abitur wird Domaschk aus der Abiturausbildung relegiert, wegen „gesellschaftlicher Unreife“.

Die Junge Gemeinde ist den Sicherheitsbehörden ein Dorn im Auge. Aus einem Stasi-Protokoll zur JG: „Dabei handelt es sich nicht vordergründig um religionsgebundene Jugendliche, sondern um solche, die mit ihrer Umwelt in Widersprüche geraten sind und unter dem Deckmantel einer derzeit nur unter der Obhut der Kirche möglichen freien Persönlichkeitsentwicklung gegen die sozialistischen Verhältnisse motiviert werden.“ Unter dem „Deckmantel“ der JG sind über die Jahre mindestens 60 IMs in Kirchenfragen aktiv. Weiter heißt es im Stasi-Protokoll: „Eine besondere Bedeutung kommt dem Inspirator zu.“ Ein Pfarrer, der „schätzungsweise 500–800 Jugendliche des Bezirkes betreut“. Sie bearbeiten ihn im Operativen Vorgang (OV) „Spinne“. Die Spinne heißt Walter Schilling.

Eine holprige Straße durch die nebligen Wälder Südthüringens führt zu ihm. Diettrichshütte ist kaum zu finden. Eine zeitlose Siedlung, an deren Ende ein Holzhaus steht, in dem Walter Schilling wohnt. Ein großer, hagerer Mann mit langen, grauen Haaren, ein Kettenraucher. Damals das Herz der Jungen Gemeinde. Niemand, der andere zum Beten zwingt. Er will sie von der Straße holen. Andersdenkende, Arbeitslose, Tramper und Trinker. Schilling gibt der Szene einen Ort. In Erfurt haben sie diese Gruppe „die vom Zauberberg“ genannt. Nach dem Tod von Matthias wird Schilling von der Kirchenführung unter Druck gesetzt. „Raushalten!“ Die Stasi überwacht Schilling über Jahrzehnte. Es gibt kaum jemanden, der sich so gut mit dem Apparat der Stasi und ihren inneren Codes auskennt wie er. Ehrhart Neubert schreibt ihm in die „Geschichte der Opposition in der DDR“ eine „Schlüsselfunktion in der gesamten DDR“ zu: Die unter Schillings Schutz bietendem Jenaer Kirchendach versammelten jungen Oppositionellen seien die Keimzelle der DDR-Opposition gewesen. Auch Schilling hat ausgeprägte Zweifel an der Selbstmordtheorie.

Matthias Domaschk und Renate Ellmenreich lassen sich nicht einschüchtern. Pfingsten 1977 unternehmen sie eine riskante Reise. Mit dem Motorrad fahren sie nach Prag. Sie möchten sich mit der Menschenrechtsgruppe Charta 77 um Petr Uhl austauschen. Und sie berichten von den Festnahmen in Jena. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen registriert die Stasi alles. Für den Kontakt zu den tschechoslowakischen Dissidenten hätten beide für Jahre in den Knast gesteckt werden können. Trotz allem ist den Protokollen zu entnehmen, dass in keinem der weiteren Verhöre die Reise nach Prag angesprochen wurde. Die Stasi behält ihr Wissen als Trumpfkarte in der Hand. Erst vier Jahre später, wenige Stunden vor Domaschks Tod, wird die Geschichte auf den Tisch gebracht.

Das Leben geht weiter. Ihre Freunde sitzen nach der Biermann-Aktion in Haft. Matthias und sein Kumpel Peter Rösch sammeln Geld für Rechtsanwälte. Renate Ellmenreich nimmt Verbindung zu Hannes Schwenger vom Westberliner „Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus“ auf. Sie brauchen eine Schreibmaschine. Schwenger will sie ihr schicken. Ein Freund, Michael Deike, überbringt sie. „War auch richtig in Folie eingeschweißt“, erinnert sie sich. „Ich packe die Maschine aus und sehe, dass fünf Buchstaben angefeilt sind.“ Renate Ellmenreich ruft Schwenger an. Der hat die Maschine schon vor Wochen verschickt. Deike ist IM „Heinz Müller“.

Domaschk muss jetzt zur Armee. Operative Bearbeitungen, Zuführungen. Seine Beziehung zu Renate Ellmenreich hat sich durch den ganzen Stress gelöst. Bei einem Verhör im Jahr 1978 drohen sie Ellmenreich, man könne ihr Kind in einem Heim verschwinden lassen. 1980 verlässt sie die DDR. Ihr wurde ans Herz gelegt, einen Ausreiseantrag zu stellen, der prompt bewilligt wurde. Querulanten wollte man so schnell wie möglich loswerden. „Die haben mich kaputtgekriegt“, sagt sie. „Dass ein Kidnapping meiner Tochter durch das MfS tatsächlich geplant war, weiß ich, seit ich meine Akte einsehen konnte.“

Mai 1979. Matthias ist wieder glücklich, mit seiner neuen Freundin Kerstin. Die Zeit bei der NVA hat ihn verändert. Zaghafter ist er geworden. Er will seine Ruhe. Leicht ist es nicht. Auch seine neue Freundin wird von der Stasi verhaftet. Weil sie regelmäßig zu spät zur Arbeit kommt, muss sie für ein Jahr hinter Gitter. Wegen „asozialer Lebensweise“. Wenn sie draußen ist, wollen die beiden heiraten.

Peter Rösch, Domaschks Freund aus Jena, bewohnt heute in Kreuzberg ein Haus, das er und ein paar Freunde durch Gründung einer Genossenschaft Spekulanten vor der Nase weggekauft haben. Er sieht aus wie früher: groß und schwer, wilde lange Locken, ein dichter Bart wie der Weihnachtsmann. Als er nach Matthias’ Tod die DDR verlässt – man hatte ihm über Nacht tatsächlich einen Umzugscontainer vor die Tür gesetzt –, organisiert er vom Westen aus die erste Reise der Grünen zu Erich Honecker. Im Westen stellt Rösch eine Liste mit den Namen von hundert politisch Inhaftierten zusammen, die Petra Kelly Honecker überreicht. Einige der Gefangenen kommen aufgrund dieser Initiative aus der Haft frei.

Peter Rösch ist der letzte Freund, der Matthias Domaschk lebend sieht.

10. April 1981: Rösch und Domaschk wollen mit dem Zug zu einer Party in Ostberlin. Zu dieser Zeit findet der XX. Parteitag der SED statt. Erhöhte Alarmbereitschaft der Staatssicherheit. Es gilt der „Maßnahmenplan zur operativen Kontrolle ausgewählter Personen in der Aktion Kampfkurs“. Rösch erinnert sich an die Zugfahrt: „In Jüterbog sind wir munter geworden, weil der Zug ewig stand und so viel Transportpolizei herumlief.“ Es geht um sie, so viel steht fest. Festnahme, Knebelketten, Transport nach Gera, Gefängnis der Staatssicherheit. Ein Rolltor öffnet sich. Ein Spalier Uniformierter. „Los, Dicker, lauf!“ Tritte. Ein Offizier begrüßt Rösch mit seinem Spitznamen: „Hallo, Blase!“ Der Offizier zeigt auf eine Intarsienarbeit an der Wand mit dem Porträt von Felix Edmundowitsch Dserschinski, dem Gründer der sowjetischen Tscheka. „Der hätte euch gleich im Hof erschossen.“ Die Verhöre beginnen. Insgesamt über 40 Stunden ohne Schlaf.

12. April, mittags: Rösch darf ohne Ausweis wieder los. Er sitzt schon im Transporter, da hört er den Ruf: „Schnell, ein Arzt!“ Drei Tage später erfährt er: Matthias ist tot. Hat sich umgebracht. Niemand, der Matthias kennt, glaubt es.

Die Stasi befürchtet, dass die Situation außer Kontrolle gerät. „Entsprechend dem überregionalen Einfluss dieser Personenkreise“ ordern Major Artur Hermann und sein Intimus Hauptmann Horst Köhler eine Zusammenarbeit mit der Hauptabteilung Aufklärung in Ostberlin und den Bezirksverwaltungen in Halle, Dresden, Berlin, Erfurt, Suhl, Karl-Marx-Stadt, Saalfeld und Rostock an. Eine 268 Seiten starke Todesakte wird angefertigt.

Das Vernehmungsprotokoll hält folgendes Detail fest: „Womit befassten Sie sich in den Jahren 1976/1977?“ Domaschk: „1977 fuhr ich mit Renate Groß mit dem Motorrad nach Prag. In Prag trafen wir uns mit XX, mit dem wir dann zu Petr Uhl gingen.“ Seit vier Jahren weiß die Stasi von der Reise. Wenn die Stasi die fragliche Passage nicht erfunden und nachträglich ins Protokoll geschrieben hat, dann gesteht Domaschk hier ohne erkennbaren Anlass ein Vergehen, das ihm vor dem Hintergrund „osteuropäischer Oppositionsbildung“ und „Vernetzung von staatsfeindlichen Gruppen“ bis zu zwölf Jahre Haft eingebracht hätte.

Ausgelöst haben soll die Fahndung nach Domaschk und Rösch eine fast vier Wochen alte Meldung von IM „Klaus Steiner“, der am 19. März 1981 einen gewissen Genossen Mähler über ein Gespräch mit Domaschk informiert: „Einer der Hauptgegenstände der Diskussion bildeten Rote Brigaden. Die Meinung des Matz ist dahin zu konkretisieren, dass er die Handlungen solcher Roten Brigaden für den einzigen Ausweg in unserer Gesellschaft bei der Beseitigung der herrschende Missstände sieht.“ Walter Schilling sagt dazu: „Diese Meldung von IM Steiner ist völlig vereinzelt in der Akte. Die hat dort eigentlich gar nichts zu suchen.“

In der Logik einer Verteidigungsstrategie der Stasi gegenüber der eigenen Untersuchungsabteilung ist diese Meldung allerdings Gold wert. Sie fügt sich in ein Bild, das Domaschk als Umstürzler zu rekonstruieren trachtet. Sie verschleiert, dass es keine Gründe für einen Selbstmord gab. Auch IM „Steiner“ erklärte gegenüber Renate Ellmenreich später, nie eine solche Meldung abgegeben zu haben.

Sauber abgeheftet ist auch eine Verpflichtungserklärung: Kurz vor seinem Tod unterschreibt Matthias Domaschk, künftig als IM „Peter Paul“ tätig zu sein. Geworben haben soll ihn Horst Köhler. Der Mann, der ihn fast fünf Jahre zuvor mit der Tonbandaufnahme hinters Licht führte, den er hasste. Danach sei ihm mitgeteilt worden, er werde nun nach Hause gebracht. Während er im Besucherzimmer 121 auf die Entlassung wartete, hätte er sich kurzerhand mit seinem „Herrenoberhemd Olymp“ an den Heizungsrohren in einer Höhe von 2,57 Metern erhängt.

Die Stoßrichtung der Todesakte ist deutlich: Domaschk unterschreibt eine Verpflichtungserklärung, um sich vor einer langjährigen Haftstrafe zu retten. Dann gerät er in moralische Zweifel und entschließt sich zum Freitod. Doch wer die Szene kennt, weiß, dass Verpflichtungserklärungen nicht zwingend ein Problem waren. Eher dienten sie als Mittel zum Zweck, um leidigen Befragungen zu entgehen. „Dekonspirieren konnte man sich, indem man damit hausieren ging, für die Stasi zu arbeiten. Das haben wir oft gemacht“, erläutert Schilling. Gerade Domaschk war in einer Arbeitsgruppe, die sich genau diesem Problem widmete. Persönliche Probleme, die eine Labilität nahe legen, sind unwahrscheinlich. In wenigen Wochen wollte Domaschk heiraten.

Niemand in der Stasi konnte ahnen, dass die DDR wenige Jahre später enden würde. Warum sollte die Akte manipuliert sein? Walter Schilling: „Sie funktioniert als Legende nach innen. Aus Angst vor der rabiaten Untersuchungsabteilung.“ Verantwortliche wollten für etwaige Disziplinarmaßnahmen gerüstet sein.

In einem entscheidenden Schriftstück der Bezirksverwaltung Gera vom 22. April 1981 findet sich folgende aufschlussreiche Passage: „Durch über verschiedene Ebenen bis zur Thüringer Kirchenleitung gesteuerte Informationen konnte inzwischen die Entwicklung in unserem Sinne positiv beeinflusst werden, alle verantwortlichen Mitarbeiter akzeptieren die offizielle Darstellung des Suizids des Domaschk.“

Die Sektion der Leiche am 13. April 1981 mit dem Befund „Tod durch Erhängen“ unterschreibt der Oberarzt der Fakultät für Rechtsmedizin Jena, Dr. Disse. Bei einer Jagdgesellschaft soll er im selben Jahr Dr. Pitzler von der einprägsamen Obduktion erzählt haben: Aufgrund von Würgemalen am Hals sei ein Suizid durch Erhängen auszuschließen. Er sei durch MfS-Angehörige gezwungen worden, seine Angaben in „Tod durch Selbstmord“ abzuändern. Das meldete Dr. Pitzler ein Jahr später dem Bundesnachrichtendienst.

Die Wende spült die Geschichte wieder an die Oberfläche. 5. Oktober 1990: Renate Ellmenreich erstattet Anzeige gegen unbekannt. Sie will klar machen, dass Matthias Domaschk noch leben würde, wäre er nicht von der Staatssicherheit verhaftet worden. Im September 1994 stellt der ermittelnde Staatsanwalt Kern aus Erfurt das Verfahren ein. Ellmenreichs Beschwerde wird 1995 von der Oberstaatsanwaltschaft verworfen. In seiner Begründung schreibt Kern, dass sich aufgrund der Ermittlungen keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür ergaben, „dass der Selbstmord auf Übermüdung und/oder psychischem Druck“ basiere.

Peter Rösch gibt an, dass Domaschk 58 Stunden ohne Schlaf war. Die Staatsanwaltschaft begründet ihre Sicht mit der protokollierten Vernehmung. Sie legt also die Akten der Stasi zugrunde und unterstellt damit deren wahrheitsgetreue Wiedergabe des Geschehens.

Gegenüber der Staatsanwaltschaft der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter revidiert Dr. Pitzler im Jahr 1983 seine eigene Aussage: „Meine Angaben gegenüber dem Bundesnachrichtendienst sind unrichtig.“ Hatte die Stasi ihre Finger nach ihm bis in den Westen ausgestreckt? Renate Ellmenreich beteuert, dass ihr Pitzler die erste Variante mehrmals bestätigt habe. In seiner Vernehmung am 23. September 1991 in Erfurt betonte Pitzler Erinnerungslücken, verwies allerdings wieder auf seine ursprünglichen Angaben gegenüber dem Bundesnachrichtendienst. Urteil des ermittelnden Staatsanwalts Kern: Erinnerungslücken seien bei der „Außergewöhnlichkeit der angeblichen Mitteilung des Dr. Disse nicht glaubhaft“. Pitzler sei mithin unglaubwürdig. Der Obduzent Disse leugnet alles. Zum Zeitpunkt seiner Vernehmung praktiziert er nach wie vor als leitender Arzt. Ein gefälschter Obduktionsbericht hätte ihn auch nach der Wende die Approbation gekostet.

Weitere Ungereimtheiten: Die ganze Suchaktion nach Rösch und Domaschk wurde von der Bezirksverwaltung Jena ausgelöst. Aus den Meldungen über den Stand der Verhaftung ergibt sich ein Kompetenzgerangel. Jena will Domaschk und Rösch – in Gera, unter der Referatsleitung von Artur Hermann, kommen sie schließlich an. Das Warum wird nie geklärt. Trotzdem taucht Köhler in Gera auf, obwohl er in Jena arbeitet. Ging schließlich bei einem ruppigen Verhör etwas schief? 84 Übergriffe und eine schwere Misshandlung durch Justizbeamte meldete die Zentrale Erfassungsstelle im Jahr vor Matthias Domaschks Tod, auch in Gera. Wollte Köhler sich einen Namen machen, und war Domaschk vielleicht nicht so gesprächig wie gewünscht?

Kurz bevor Horst Köhler Domaschk das erste Mal verhörte, war er am 1. September 1976 stellvertretender Referatsleiter der Abteilung XX KD Jena geworden. Wegen seiner Erfolge bei operativen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns kommt er 1979 in die Kaderreserve. 1983, zwei Jahre nach Domaschks Tod, steigt Köhler zum Referatsleiter auf. Bereits 1985 ist er im Zentrum der Macht: in der Hauptabteilung XX/4 in Berlin. Ein rasanter Aufstieg. Begründung laut interner Kaderakte: Er konnte „sich umfassende tschekistische Kenntnisse als operativer Mitarbeiter aneignen. Im Bereich der studentischen Jugend und klerikaler Kreise in Jena bewies er Einfallsreichtum.“ Über seinen Charakter heißt es dort: „Er ist wendig und anpassungsfähig, kann sich schnell auf Gesprächspartner einstellen und zielstrebig seine konzeptionellen Vorstellungen umsetzen.“ Seine neue Funktion: „Verantwortlicher für Propaganda“. Sei Vorgesetzter in Berlin ist der ehemalige Referatsleiter der XX in Gera: Artur Hermann. Alles sieht nach einer Connection aus.

Im Jahr 2000 werden die Beteiligten wegen Freiheitsberaubung zu minimalen Geldstrafen verurteilt. Horst Köhler muss wegen der Verhandlung nicht einmal seinen Urlaub unterbrechen. Eine Vorladung erscheint dem Gericht nicht nötig. Er wohnt auch heute noch immer in der gleichen Wohnung wie damals. In Sichtweite der East Side Gallery. Der guten alten Mauer.

Es gibt ein Foto aus dem Jahr 1990. Es zeigt die Berliner Stasi-Zentrale nach der Erstürmung. Vor der Absperrung steht ein Volkspolizist. An die Wand des Gebäudes haben die Demonstranten den Satz gesprüht: „Ihr habt Matthias Domaschk ermordet.“

KAI SCHLIETER, 32, ist Parlamentskorrespondent der Thüringer Allgemeinen und lebt in Berlin. Zuvor hat der in Rheinland-Pfalz aufgewachsene gebürtige Westberliner zwei Jahre in Erfurt gelebt und neben seinem Zeitungsvolontariat für diese Geschichte recherchiert