: Wir marschieren
KATZENJAMMER Wahlkampf produziert Zerrbilder der Politik. Über das Erwachen danach
aufgewachsen am Niederrhein, Public-Affairs-Berater, Lehrbeauftragter an diversen Universitäten, Publizist in Berlin. Er bloggt unterwww.wiesaussieht.de
VON HANS HÜTT
In diesen Tagen machen sie uns die Wahl noch schwerer. Sie ziehen alle Register, beherrschen ihre Tricks und Phrasen auch im Tiefschlaf. Sie wünschen uns in später Nacht noch einen schönen Abend, weil ihr eigener Zeittakt den Anschluss an die Lebenswelt der Wähler verloren hat. Sie wirken auf mich wie Maschinenmenschen in Erfüllung einer Funktion, die keine Selbstzweifel zulässt. Jedenfalls jetzt nicht.
Nur jetzt nicht.
Der Katzenjammer komme am Tag nach der Wahl. Nur jetzt nicht darüber nachdenken, schon gar nicht reden. Der Siegeswille muss absolut sein, egal, was die Demoskopen sagen. Nur jetzt nicht darüber reden.
Nebelkerzen, Bienenstich und Eierlikör, warme Worte und Phrasen, die nichts darüber sagen, was die Wahlkämpfer tatsächlich erwarten für die Zeit nach dem 22. September. Nur jetzt nicht.
Dass da im Osten ein großer Krieg droht, wird ins Kleingedruckte diplomatischer Noten verbannt. Nach Diktat verreist. Noch vor drei Jahren sagte die Bundeskanzlerin in der Knesset, das Existenzrecht Israels sei Teil der deutschen Staatsräson. Nur jetzt nicht?
In den Parteizentralen schwärmen die Strategen vom Storytelling, von Mikrogeschichten, die das „gemeinsame Schaffen“ eines Ziels, einer Idee entkleiden, worin es denn besteht. Sie liefern Geschichten wie ein Stück Bienenstich, weil sie die Realgeschichte nicht für aushaltbar halten. Nicht jetzt.
Die Phrasen sitzen nach drei Wochen lauwarmen Wahlkampfs wie eine zweite Haut. Sie schnurren und gurren um die Wette, solange sie nur nichts Ernsthaftes sagen müssen, etwas Erschreckendes, etwas, das den Souverän mit dem Ernst der Lage vertraut machte. Keiner kommt auf die Idee, dass eine Frage nach Geisterfahrern etwas mit ihnen selbst zu tun haben könnte. Sie kommen uns entgegen? Bitte nur jetzt nicht!
Was wäre los in der Sparerrepublik, wenn die tatsächlichen Folgen der Finanzkrise offen diskutiert würden? Was wäre los, wenn ein Sonderermittler der Vereinten Nationen den Giftgaseinsatz mitten im syrischen Bürgerkrieg untersuchen sollte und dafür das Bundeswehrkommando der Spezialkräfte zum Schutz benötigte? Nur jetzt nicht darüber reden.
Auch die Medien tragen ihren Teil dazu bei, dass nur noch Zerrbilder einer Idee des Politischen beim Wähler ankommen. Die Godzilla-große Raute der Bundeskanzlerin, der Stinkefinger des Kandidaten, welche Botschaft vermitteln sie als Zeichen? Nur jetzt nicht danach fragen.
Für jede Klientelgruppe scheint bis auf den Cent durchgerechnet, was die Wahlprogramme für Folgen haben. Dass diese Programme am Tag nach der Wahl nicht mal das Altpapier wert sind, auf das sie gedruckt wurden, wen kümmert das? Nur jetzt nicht daran denken.
Die Idee des Gemeinwohls, die Idee, was denn der Nutzen sein könnte, den sie zu mehren versprechen, worin der Schaden liegen könnte, den sie in der politischen Verantwortung abzuwenden haben, das gerinnt zu etwas völlig Nebulösem, zum kleinsten denkbaren Übel, zu einer Petitesse, die sie erst am Tag nach der Wahl mit voller Wucht erneut unter Druck setzen wird. Nur jetzt nicht darüber reden.
Was sagen uns die Parteiprogramme in leichter Sprache? Dass wir alle irgendwie zu bekloppt sind, um zu verstehen, was auf dem Spiel steht? Nur jetzt nicht darüber reden.
Brauchen wir Gebärdendolmetscher für blühenden Unfug? Nur die Gebärdenleser lesen den Unsinn und schütteln den Kopf. Wie ernst die Lage ist? Nur jetzt nicht daran denken.
Jan Skudlarek hat das Wahlprogramm der FDP mehrfach durch den Google-Übersetzer gejagt, ins Lateinische, Georgische, Katalanische und dann zurück ins Deutsche übersetzt. Das ist ein Augenblick automatisch erzeugter Wahrheit. Das hört sich so an: „Diese Grenzwerte werden erreicht. Wir marschieren.“ Ein Augenblick der Wahrheit. Nur bitte jetzt nicht!
Wann denn dann?