: Zerschlissen ist das Ruhrgebiet
Doch nur Arbeiter, die aus rußgeschwärzten Gesichtern schauen? Ein Kommentar heute im WDR Fernsehen
Brachland. Soweit das Auge reicht. Quasi ein endloser brauner Acker. Und dann: Schnitt. Die Kamera bezieht wieder dieselbe Stellung, blickt wieder herab vom Oberhausener Gasometer. Allerdings eine Dekade später, im Jahre 2004. Was sie sieht: saftig grüne Wiesen, Bäume, Einkaufszentren, Teiche, ein rotierendes Riesenrad – die Oase des Kapitalismus.
Am Beispiel der Oberhausener „Neuen Mitte“ und ihrem Konsumtempel Centro zeigt sich der Wandel des Ruhrgebiets vielleicht am sinnfälligsten. Wie binnen Jahren die rostig-braunen Töne des Industriezeitalters getilgt und durch ein blühendes Areal ersetzt wurden. Es ist eine der symbolischsten Szenen des Dokumentarfilms „phoenix-fliegt@ruhrgebiet“, der heute Abend erstmals im WDR ausgestrahlt wird – jedoch unter anderem Titel.
Anstelle des sperrigen Namens, den der Dortmunder Filmemacher Horst Herz seinem Streifen gegeben hatte, wählte der WDR einen ausgelutschten: „Kultur statt Kohle - Das neue Ruhrgebiet“. Wenn man die Zuschauer schon vor Beginn einschläfern will, dann so. Außerdem wurde der Film ins Nachtprogramm verbannt, wo er unterzugehen droht, wenngleich das Datum nicht idealer gewählt sein könnte: Morgen entscheidet sich in Brüssel, ob sich das Revier, die Region im Wandel, im Jahre 2010 Kulturhauptstadt nennen darf.
Herz erzählt die Geschichte dieser Region nicht artig in chronologischer Reihenfolge, sondern montiert Momentaufnahmen zu einer filmischen Collage. Dabei steht er mehr am Rande, fungiert öfter als stiller Beobachter, anstatt sich ständig ins Getümmel zu werfen. Zum Beispiel beim Open-Air-Konzert der Rolling Stones, 2003 in Oberhausen. Herz steht nicht in der ersten Reihe, iwo. Er steht hinten. Ganz hinten. Auf einer Straße, inmitten von Autos und Polizei und Menschen, die sich mit Bier und Ferngläsern bewaffnet haben. Dabei ist Herz immer wieder in der Lage, phantastische Stillleben zu konservieren. In einem Lagerraum einer Zeche etwa. Die Kamera streift zerschlissene Stühle, Schrauben, Werkzeug. Alles grau und braun. Und an der Wand: das Foto einer Bucht, umspült von smaragdblauem Wasser. Kleine Häuser stecken im Hang. Mächtige Kakteen ragen empor. Und kommen die Kumpel zu Wort, antworten sie auf die Frage, was sie nach dem letzten Feierabend machen wollen, meistens nur eines: weg, ab ins Flugzeug und weg. Am besten in genau jene Bucht.
Die Zechen und Stahlwerke, die Arbeiter, die aus ihren rußgeschwärzten Gesichtern gucken - das ist die eine Seite des Reviers, die ältere. Sie nimmt den größten Teil des Filmes ein, dessen WDR-Titel suggeriert, „das neue Ruhrgebiet“ abzubilden, also den kulturellen Aspekt. Auch das macht Herz, allerdings herzlich wenig. Man sieht Peter Greenaway über den Niedergang des Kinos reden oder Bill Viola-Engel beschwören. Man fährt kurz durch eine Produktion der Ruhrtriennale, sieht wie sich Jürgen Kohler bei seinem Abschied die butterweiche Fußballerseele aus dem Leibe flennt. Man stationiert auch flugs auf der Essener Zeche Zollverein – die ganze Pracht abzubilden, das gelingt Herz aber nicht. Dazu hält er sich zu lange in Zechen auf, vor allem in der Ahlener Zeche Westfalen, die ihm als Beispiel dient.
Und am besten sind Dokumentationen ja ohnehin in den unbeabsichtigten Details. Wenn vorne jemand interviewt wird und hinten ein Unbeteiligter gegen einen Laternenpfahl schlendert. Aus dieser Rubrik stammt auch die folgende Szene: Die Kamera beschäftigt sich gerade mit stahlschwerer Industrie, als aus dem Radio im Hintergrund Nachrichten dringen und mit ihnen ein krachkomischer Satz: „Helmut Kohl weist alle Vorwürfe zurück.“ BORIS R. ROSENKRANZ
23:15 Uhr, WDR“Kultur statt Kohle – Das neue Ruhrgebiet“Kommentar von Joachim Król