: Kaninchenloch in eine andere Welt
SURREAL Mit der jiddischen Sprache groß geworden, ging Mendy Cahan von Antwerpen nach Telv Aviv und gründete dort 1993 das Yung Yidish Book Museum
MENDY CAHAN
VON JUDITH POPPE
Der Weg ist lang und verworren und führt durch die Central Bus Station in Tel Aviv. Mit den Rolltreppen fährt man hinauf in den fünften Stock, drängelt sich vorbei an Touristen, Pendlern und Soldaten, lässt die Trashläden voller Sonnenbrillen, T-Shirts und Sim-Karten und die Technomusik hinter sich, folgt den langen, dunklen Betonkorridoren ins Nichts, sucht sich durch die vor Leerstand gähnenden Gänge, bis man sich schließlich vor einer Tür wiederfindet, über der ein Schild hängt. Auf dem Schild steht: Yung Yidish Book Museum. Und dann, inmitten dieser dunklen, leeren Korridore, öffnet man die Tür und fällt durch ein Kaninchenloch in eine andere Welt.
Mendy Cahan, der Gründer und Betreiber des Museums, sitzt mit Zigarette in der einen und einem Buch in der anderen Hand auf einem Sofa. „Moshe Nadir“, sagt er und tippt auf das Buch: „Schriftsteller, Philosoph, Literaturkritiker, Übersetzer, Stückeschreiber. Aber wer kennt ihn schon?“ Cahan schiebt sich die Brille in seine schlohweißen Haare, legt das Buch zur Seite und zuckt mit den Achseln. „Vollkommen unbekannt. Und völlig zu Unrecht.“ Mit seiner braunen Lederweste, den zerzausten weißen Haaren und dem flatternden Hemd, dessen Ärmel hochgekrempelt sind, wirkt Cahan ein bisschen wie aus der Zeit gefallen. Richtiger aber wäre es zu sagen: Er hat sich mitten in die Zeit geworfen und hat an dem hektischsten Ort, den man im ohnehin schon lauten Süd Tel Aviv finden kann, in der siebenstöckigen Central Bus Station, eine Oase erschaffen. In der haben mittlerweile rund 50.000 jiddische Bücher ihre Heimat gefunden.
„Ja, es stimmt“, sagt Cahan, „hier herrscht eine Art Zwielicht, eine mystische, halb-surrealistische Atmosphäre.“ Er hat dieses Museum im Jahr 1993 gegründet. Aufgewachsen in einer orthodoxen Familie als Sohn eines Holocaustüberlebenden in Antwerpen, ist er mit der jiddischen Sprache groß geworden. 1980 kam er als 18-Jähriger nach Israel, um in einer Yeshiva zu studieren. Aber er verließ bald diesen Pfad und schrieb sich an der Hebräischen Universität in Jerusalem ein und begann dort ein Sprachenstudium. An den Moment der Eingebung erinnert er sich noch gut. Der damalige Literaturstudent schrieb an einer Arbeit über das Jiddische um 1880 und drehte den Mikrofiche eines jiddischen Buchs durch den Apparat. „Das ist verrückt, dachte ich. Diese Kultur ist so reich, wichtig – und zerstört. Warum sollte sie nur noch als Mikrofilm in den Tiefen der Bibliothek zu finden sein?“ Cahan beschloss, das Jiddische aus den Tiefen an die Oberfläche zu befördern und bat im Radio – er war zu der Zeit Nachrichtensprecher von Radio Kol Israel – darum, nicht mehr gebrauchte jiddische Bücher an ihn zu geben. Das war die Geburtsstunde des Museums.
Seitdem sammelt Cahan Tausende von jiddischen Büchern. 1993 rief er Yung Yidish als Non-profit-Unternehmen ins Leben. Knapp zehn Jahre später bezog er die Kellerräume der Assoziation für jiddische Journalisten und Schriftsteller. Dann aber stieß er per Zufall auf diesen Ort in der Central Bus Station. In dem ist das Yung Yidish Book Museum nun seit 2006 zu Hause. Eigentlich wurde der Raum von der Verwaltung für nicht gebrauchsfähig betrachtet.
Oben rattern die Busse
Es gab keine Fenster. Noch heute gibt es kein fließendes Wasser in diesem Betonraum. Die Elektrizität muss mit Verlängerungskabeln aus dem vorderen Raum hinübergeleitet werden. In der oberen Etage fahren die Busse im Minutentakt ein und aus. Die Wände wackeln, es quietscht und rattert. Cahan lacht. „Ich höre das schon nicht mehr. Aber der Ort ist eine Allegorie für den Status des Jiddischen in Israel und anderswo.“
Die jiddische Kultur war immer eine der Bewegung und der Migration. Gleichzeitig war sie dort, wo sie gelebt hat, auch immer sehr verwurzelt. Cahan weist mit einer Kopfbewegung nach draußen, zündet sich eine neue Zigarette an und bläst den Rauch aus: „Auch für Israel kann man nicht ganz sicher sein, ist Jiddisch fremd oder lebt es hier?“ Wo also sollte dieses Museum seinen Platz finden, wenn nicht dort, wo sich Touristen nach der Egged-Linie 312 durchfragen, Geflüchtete aus Eritrea und dem Sudan landen und Berufspendler auf dem Weg nach Haifa sind.
Noch vor der Staatsgründung Israels wurde mit der strikten Sprachenpolitik das Jiddische verdrängt. Hebräisch, die Sprache der Tora, sollte für den Alltagsgebrauch tauglich gemacht und Amtssprache werden, auch wenn viele noch nicht einmal ein Bahnticket in dieser Sprache kaufen konnten.
Cahan schlägt eine Zeitschrift auf, die Schrift für Kunst und Literatur. Sie sollte 1929 in Palästina in Serie erscheinen. Periodika aber wurde keine Genehmigung erteilt. Also ist die Zeitschrift in dreimonatigem Abstand unter immer neuen Namen erschienen, um die restriktive Lizenzvergabe zu umgehen. „Eijns“ und „Zweij“ hießen die ersten beiden Ausgaben, danach folgten die Titel „weijter“, „Haifa“ und „Oktober“.
Aber nicht nur die Sprachenpolitik ist der Grund für den ambivalenten Status des Jiddischen in Israel. Nach dem Holocaust wurde das Jiddische weiter an den Rand gedrängt. Zu eng schien das Jiddische mit der Diaspora verbunden. So wurden mit dem Versuch, die Erinnerung an den Holocaust zu unterdrücken, auch jiddische Sprache und Kultur verdrängt. In der jungen Generation aber beobachtet der Museumsgründer heute eine wachsende Neugier, ein Verlangen, die Spuren wieder aufzudecken.
Und dennoch: Jiddisch polarisiert in Israel auch heute noch. „Jiddisch?“ Cahan spuckt aus und verzieht sein Gesicht zu einer Grimasse: „Wozu?“ Dann lächelt er. Eine solche Reaktion hört er oft. Genauso oft aber begegnet er Menschen, die nur einen jiddischen Witz für einen guten Witz halten oder beim Hören jiddischer Worte regelrecht dahinschmelzen. „Für mich ist diese große Spannbreite von Reaktionen ein Beweis dafür, dass die Sprache lebendig ist.“
Überhaupt: Lebendigkeit steht im Mittelpunkt dieses Museums. Mehrere Male im Monat organisiert der passionierte Buchsammler Performances, Lesungen und Konzerte. Weinflaschen werden geleert und der Zigarettenqualm verdichtet sich. Manchmal tritt der Hausherr selbst auf, mit der Klezmerband Mendy Cahan&the Yidish Express oder allein, mit Interpretationen von Jacques Brel Klassikern, wenn „Me ne quitte pas“ zu „Los mich nicht aleijn“ wird.
Chassidim mit langen Bärten und Schläfenlocken stromern genauso durch die Gänge des Museums wie Regisseure auf der Suche nach Inspiration oder Wissenschaftler, die zu Recherchezwecken kommen. In den Regalen und Auslagen finden sich venezianische jiddischsprachige Bücher aus dem 16. Jahrhundert neben Groschenromanen aus Warschau und Berlin. Jiddische Zeitschriften vom Anfang des 20. Jahrhunderts aus Europa und Amerika spiegeln den Höhepunkt der Moderne wider.
Der Vorstellung, das Jiddische sei lediglich die Sprache der osteuropäischen Chassidim gewesen, wird hier gründlich der Boden entzogen. Auch die 1897 in New York gegründete Zeitschrift Forverts ist ein Beispiel dafür. Vor wenigen Monaten erst ist sie online gegangen, auf Jiddish und auf Englisch. (yiddish.forward.com/).
Auf der Welt gibt es heute um die zwei Millionen Menschen, die jiddisch sprechen, in Israel sind es einige Hunderttausend. Gerade weil die jiddische Kultur in zahlreichen Teilen der Welt ihr Zuhause hat, von Buenos Aires bis Warschau, ist sie auch sehr weltoffen.
Tagelang kann man hier auf Entdeckungsreise gehen, zu unterschiedlichsten Zeiten und Orten der Welt, indem man Bücher aus den Regalen zieht. Cahan besteht darauf, die Bücher nicht unantastbar in Vitrinen zu stellen. „Es gibt jiddische Bücher in Bibliotheken. Eine offene jiddische Bibliothek aber, in der Menschen schmökern können, die gibt es nur hier.“
Er blättert in einer Zeitschrift und zeigt auf eine zerknickte Ecke. „Ich würde gern alles digitalisieren. Das Missverständnis mit Digitalisierung aber scheint mir, dass häufig geglaubt wird, Digitalisierung führe automatisch auch zu einer Überführung des Inhalts in das menschliche Gehirn, fast so, als müssten wir uns dann nicht mehr darum kümmern. Also lassen wir doch die Bücher atmen. ‚Verkneitschte‘ Ecken …“ Cahan zuckt mit den Schultern und zieht die Augenbrauen hoch: „Nu. Das passiert.“
Einige Schritte von den Tischen mit den Zeitschriften entfernt befindet sich ein Stehpult. Auf ihm liegen einzeln hergestellte Originalplakate aus dem Wilnaer Getto von 1942 und 1943. Zum Höhepunkt der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten wurden auf diesen Plakaten Kunstausstellungen, literarisch-musikalische Abende in jiddischer Sprache sowie Lotterien angekündigt, auch eine Bibliothek im Getto wird beworben. „Die Leute haben scheinbar gelesen wie verrückt“, sagt Cahan. Er schüttelt den Kopf. „Aber ich möchte das Interview ungern mit dieser Note enden lassen.“
Er schließt den Pappdeckel und fährt fort: „Die Kreativität bleibt am Leben, das Jiddische scheint eine bemerkenswerte Kraft zu haben, wiederaufzuerstehen. Beim Chmielnitsky-Pogrom 1649 wurden 300 Gemeinden niedergebrannt, Hunderttausende wurden ermordet. Und zwanzig Jahre später bist du wieder da und die Welt geht weiter.“
Noch kosmopolitischer würde Cahan das Buchmuseum gern gestalten, etwa indem er auch Übersetzungen von jiddischen Büchern in andere Sprachen mit in die Sammlung aufnimmt. Ein Ort für Kreativität und Lernen will das Buchmuseum sein, des Austauschs für Menschen mit ihren vielfältigen kulturellen Hintergründen. Tatsächlich nimmt man etwas von diesem Ort mit, wenn man dort gewesen ist. Es fällt schwer, sich wieder aufzuraffen und auf den Weg in die Welt da draußen zu machen. Zu haimish ist es hier, haimish auf diese jiddische Art, was auch immer das genau bedeuten mag.
In der Etage über uns fährt wieder ein Bus ab. Es rattert und quietscht. Und plötzlich wird einem klar, dass dieses Museum einen großen Teil von dieser Welt „da draußen“ darstellt: Unterwegs nach überall und irgendwie auch sehr nah.
■ Infos: yiddish.co.il/about/
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