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Archiv-Artikel

Rote Zukunft unter Capris Sonne

Mit seinen Videopschnipselabenden in der Volksbühne schafft Jürgen Kuttner ständig neue Assoziationsräume zur Geschichte. Jetzt feiert er mit „Lovely Lenin 1“ den allgemeinen Stillstand, der seit der Sowjet-Revolution bis in die Gegenwart anhält

von ESTHER SLEVOGT

Alles stagniert. Wir kommen nicht vorwärts. Der Utopiehorizont schafft es heutzutage selten noch auf Werte oberhalb der Gürtellinie. Wenn da nicht Jürgen Kuttner wäre, letzter Krieger an der Aufklärungsfront. Unermüdlich liest er uns quer durch Formate, Epochen und Systeme in seinen Videoschnipsel-Vorträgen die Leviten und deckt die Wahrheit hinter den Bildern auf.

Auch am Anfang seiner neuen Postpolit-Revue „Lovely Lenin“ zeigt er auf großer Leinwand das wahre Gesicht der Stagnation: Im November 1982 wird der verstorbene KPdSU-Chef Leonid Breschnew im offenen Sarg durch Moskau getragen. Das sowjetische Fernsehen filmt zehntausende von Sowjetbürgern, die in der Kälte die Straßen säumen, versteinerte Militärs und noch versteinertere Politbüromitglieder im Rentenalter. Später werden „Boney M“ dem Moskauer Winter ganz andere Seiten abgewinnen: Von debilem Frohsinn getrieben, schlagen sie an der Kremlmauer eine Schneeballschlacht, wo sie im Dezember 1978 als erste westliche Popband auftreten und filmen durften.

Vorläufig bestimmen aber noch satte Moll-Töne die Szene. Gramgebeugt streicht Madame Breschnew zum Abschied über das Haar des toten Gatten. Dann wird der Sarg verschlossen und Moskau erstarrt in stummer Monumentalität – zum letzten Mal zeigt sich die Sowjetunion im vollen Ornat. Breschnews Nachfolger Andropow starb schnell, sein Nachfolger Tschernenko noch schneller. Dann kam Gorbatschow, im Sog seiner Reformen ging die Weltmacht unter.

„Wuff, dann war's zu Ende!, ruft Kuttner schrill in sein Mikrofon, als er in seiner unnachahmlichen kuttnerastrologischen Art die gespenstischen Bilder und ihre Beziehung zur Gegenwart erläutert. Damals herrschte in der UdSSR das „Goldene Zeitalter Stagnation“. Eigentlich genauso wie bei uns heute, findet Kuttner. Weshalb für ihn die Frage „Wann stirbt Breschnew?“ auch im Jahr 2006 hochaktuell ist. Dafür hat er so bewährtes revolutionäres Fachpersonal wie Wladimir Illitsch Lenin exhumiert und mit Videoschnipseln, Liveauftritten anderer Volksbühnenmatadoren und -matadorinnen kombiniert, zu einem höchst vergnüglichen, gelegentlich auch erhellenden Abend. Zwar wird die behauptete Beziehung der Ära Breschnew zur Gegenwart nur vage angerissen, ohne dass es wirklich eine Anleitung gibt, wie man den Verhältnissen die Stirn bieten könnte. Immerhin zeigt uns das Duo Datenstrudel aber, was es schon in dem Film „Weltverbesserungsmaßnahmen“ vorgeführt hat: wie man effektiv Sand ins Getriebe des Kapitalismus manövrieren kann.

Kuttner wiederum beherrscht die Fähigkeit, durch das Aneinanderschneiden scheinbar zusammenhangsloser Beiträge überhaupt Assoziationsräume zu öffnen. Da taucht auf der Leinwand zunächst ein äußerst öder Staatsbürgerkundelehrer und erklärt einer sichtlich desinteressierten 70er-Jahre-Klasse die Gründung der KomIntern durch Genossen Lenin im Jahre 1919. Danach singt Kathi Angerer Ernst Buschs „linken Marsch“, dessen Text Wladimir Majakowski schrieb, als die Revolution noch jung und die Hoffnungen entsprechend gigantisch waren. Es klingt ganz unkämpferisch lasziv, mit der gleichen Haltung könnte Angerer auch „Je ne regrette rien“ singen. Die Bedeutungen sind aufgebraucht, die Inhalte hohl geworden. Falls sie das nicht immer schon waren. Und weil, das zeigt der Zusammenschnitt der bürokratischen und der erotischen Version der revolutionären Botschaft, der richtige Ton wahrscheinlich nie getroffen wurde, verlief die Sache eben im Sande.

Den richtigen Ton trifft, Kuttner sei Dank, später Lenin. Die Puppenspielerin Suse Wächter hat ihn als reizende Marionette wiederauferstehen lassen und er singt uns, in Erinnerung an die fröhlichen Tage vor der Revolution, als er 1908 noch mit Maxim Gorki und Alexander Bogdanow auf Capri Schach spielen konnte, das Lied vom Caprifischer vor. Wieder ist Kuttners Assoziationskette luzide geknüpft. Aber was eben das Schöne an seinen Abenden ist: man muss nicht alles dechiffrieren. Man kann sich auch einfach so amüsieren.