: Die Nacht der Albträume
Lange mussten wir uns rechtfertigen, langsam verloren auch Freunde die Geduld. Wenn es uns jetzt nicht gelungen wäre, Herrn B. nach Hause zu schicken – es wäre eine echte Blamage gewesen
VON GUIDO AMBROSINO
Am Montagabend drohte der Festsaal Kreuzberg zu einem neuen Tränenpalast zu mutieren. Dort hatten sich die Antiberlusconianer unter den Berliner Italienern zu einer Wahlparty verabredet, und am Anfang war die Stimmung heiter. Die ersten Exit Polls, auf großen Fernsehbildschirmen bis nach Kreuzberg übertragen (in Italien waren die Wahllokale bis Montag, 15 Uhr, offen, damit die Bürger in aller Bequemlichkeit ihr Kreuzchen machen konnten, ohne auf den Wochenendausflug zu verzichten), sahen die Mitte-links-Koalition bis zu 5 Prozentpunkte vor dem Gegenlager.
Dann wuchs die Enttäuschung angesichts des langsamen Einträufelns der Teilergebnisse. Der vermeintliche Vorsprung schmolz und schmolz. Spätabends schien eine Mehrheit der Sitze für Berlusconi im Senat sicher.
Der Diskjockey „Don Rispetto“ hatte seine liebe Mühe, in den Pausen zwischen den televisiven Hiobsbotschaften die Stimmung nicht vollkommen kippen zu lassen.
Wir Auslandsitaliener haben es nicht leicht gehabt in den letzten fünf Jahren. Dieser ständige Druck, sich gegenüber unseren deutschen Freunden rechtfertigen zu müssen: Wieso habt ihr denn so einen korrupten Typ gewählt? Habt ihr denn nicht ein bisschen demokratische Kultur, eine Prise guten Geschmack? Seid ihr auf dem Kopf gefallen? Wenn es uns jetzt nicht gelungen wäre, Herrn B. nach Hause zu schicken – es wäre eine echte Blamage gewesen.
Aber die schwankenden Zahlen auf dem Bildschirm der Festhalle zeigten uns, dass ungefähr die Hälfte der ItalienerInnen immer noch auf der Seite des Medienzars stehen. Es geht nicht nur um die Person des Herrn B. – alle Cavalieri dieser Erde kommen und gehen früher oder später –, sondern um diese stabile Präsenz von Millionen Berlusconiden. Anders gesagt: Der „Berlusconismus“ ist Fleisch unseres Fleisches geworden, Teil der „Autobiografie der Nation“. Daran werden wir uns noch für Jahre die Zahne ausbeißen. Es war eine Nacht der Albträume. Als ich schlafen ging, nach Auszählung aller Stimmen auf italienischem Territorium, hatte Prodi wieder eine feste Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Berlusconi hatte aber ein Sitz mehr im Senat: Es stand 155 zu 154.
Es blieb aber eine kleine Hoffnung: Die Wahlzettel der Auslandsitaliener waren noch nicht ausgezählt. Zum ersten Mal durften 2,7 Millionen von uns in der ganzen Welt per Post wählen. Jedenfalls wurden so viele Wahlunterlagen verschickt, auch wenn viele nicht angekommen sein werden. In den Wählerlisten des italienischen Konsulats in Berlin gibt es immer noch Adressen mit den uralten vierstelligen deutschen Postleitzahlen, während neu Hinzugekommene erst nach Jahren registriert werden.
Die Auslandsitaliener durften aber nicht – wie in den meisten zivilisierten Ländern – in ihren Heimatwahlkreisen abstimmen, sondern in virtuellen Weltwahlkreisen. Unserer hieß „Europa, Russland und Türkei“ und erstreckte sich von Gibraltar bis Wladiwostok, vom Nordkap bis Ankara. Auf den Wahlzetteln standen oft unbekannte Gestalten, die aber irgendwelche Paten in Rom hatten. Für Berlusconis Forza Italia warben u. a. ein Bankmanager aus London, ein Weinhändler aus Athen und eine Dame, die in Moskau eine italienische Restaurantkette betreibt.
Dieses gespenstische Politikbühnchen war eine Erfindung des Herrn Tremaglia, der in seiner Jugend für Mussolinis Repubblica di Salò kämpfte und unter Berlusconi Minister für die Italiener im Ausland wurde. Tremaglias einziger Gedanke ist die Verteidigung der italianità, er verteilt überall grün-weiß-rote Fähnchen und wollte für seine Anhänger im Ausland sichere Sitze im Parlament schaffen. Zwölf Plätze in der Abgeordnetenkammer hatte er für die Auslandsitaliener reservieren lassen, sechs im Senat.
Gestern Morgen warteten alle auf die langwierige Auszählung der Stimmen dieser Auslandsitaliener. Wir, die Gastarbeiter an der Peripherie, waren plötzlich ganz wichtig: Italiens Schicksal lag in unseren Händen. Und siehe da: Mehrheitlich haben die Ausgewanderten gegen Berlusconi gewählt. Die Wende beginnt: Forza Italia!