Das Morgen im Hier und Jetzt

Freie, radikale Übermusik: „At War with the Mystics“, das neue Album der Flaming Lips

Sie sind groß, sie sind Giganten. Aber sie könnten noch größer sein. Größer als die Red Hot Chili Peppers, die kürzlich die Deutschland-Premiere ihres neuen Videos in der Kulturzeit auf 3sat abhielten. Im Showgeschäft sind sie mindestens genauso lang: die Flaming Lips.

Irgendwann in den Achtzigern begannen sie mit extrem kaputten, prinzipiell unhörbaren Platten, auf denen sie Ideen für mindestens drei Gesamtwerke verbraten haben wie sonst nur Ween. Danach entwickelten ihre Idee einer zeitlosen Übermusik – ein Sound, der sich seiner Wurzeln bewusst ist, diese aber so gut in eine Gegenwart übersetzt, dass es nahezu unmöglich ist, die Musik noch irgendwo einzuordnen.

Bei dem Trio um den Wuschelkopf und Zehntagebartträger Wayne Coyne – einer Art Barry Gibb in drahtig – fällt das Einordnen besonders schwer. Sicher, die pompösen Rockoper-Stellen gemahnen an späte The Who; die Zirkusmusikanfälle an Zappa, von dem sie auch den Hang zum Experiment haben; Herkunft und Tendenz zur Schräge bei gleichzeitiger Liebe zum Song teilen sie mit den Freunden von Mercury Rev – denen sie jedoch weit voraus sind, wenn es um die Integration elektronischer Einflüsse und das Machen von Beats geht. Das wirklich Entscheidende an der Musik der Flaming Lips aber ist, dass sie sich nie in Verweisen ergehen, sondern einem im Hier und Jetzt basierenden Futurismus frönen.

Seit Mitte der Achtziger gibt es die Flaming Lips nun schon, und mit ihrem letzten Album „Yoshimi Battles the Pink Robots“ von 2002 hätte es auch gemütlich ins Alterswerk gehen können – die Experimente wurden weniger, die Flächen breiter, die Vorliebe für sentimentale Space-Balladen präsenter. Auch auf dem neuen Album „At War with the Mystics“ gibt es diese Stücke. „My Cosmic Autumn Rebellion“ zum Beispiel. Coynes Stimme hatte aber schon immer diese Brüchigkeit, den Ausdruck einer Trauer, die irgendwo in der Kindheit entstanden sein könnte und sich nie richtig gelegt hat. Bei aller sonstigen Albernheit. Und der Vorliebe zu gerne mal härteren Drogen. Wobei Coyne stets einer der wenigen zu sein schien, die mit ihnen umzugehen verstanden.

Ein Erfolgsrezept ihres neuen Albums heißt aber: Funk. Wer hätte gedacht, dass mit „Free Radicals“ endlich das Prince-Stück erscheint, das Prince so nie wieder wird hinkriegen können? Die gesamte Hausnummer, die kürzlich als Comeback des Popmonarchen abgefeiert wurde, kann man hiernach getrost in die Tonne treten. Dabei sagt „Free Radicals“ gar nicht „Sex“, sondern auf eine wirklich geile Art: So toll seid ihr alle nicht. „You think you’re radical / but you’re not that radical / in fact you’re fanatical.“ Das wahrhaft Radikale spielt sich woanders ab – in diesem Funk hier nämlich. Ebenso das knackig an die Seventies gemahnende „The W.A.N.D.“, ein Stück mit politisch einwandfreiem Agitationstext. Oder das schummrige „It Overtakes Me“: extraterritoriale Hymnen. Frei und visionär.

Ein Besuch ihrer Konzerte lohnt sich ebenfalls: Ausgewählte Fans steckten in Tierkostümen, die Band wirft Riesenballons in die Menge, Coyne lässt eine Handpuppe singen und zündet mehrmals die Konfettikanone – und auf Kliph Scurlocks Drums tanzt das Konfetti. Überhaupt haben die drei – Coyne, Steven Drozd und Michael Ivins – immer ein gutes Team um sich herum. Neben Scurlock, dem spektakulärsten Drummer diesseits der Muppet Show, sind das vor allem das Produzententeam Dave Fridmann und Scott Booker.

Eine Vorliebe für krudes falsch verstandenes Deutsch haben sie außerdem. „Pompeii am Götterdämmerung“ heißt hier ein üppiges Instrumentalstück. In diesem Punkt sind nur The Fall besser. Die Band um Mark E. Smith hat mal ein Stück „Das Volture ans ein Nutter-Wain“ genannt. Was auch immer das heißen sollte. RENÉ HAMANN

The Flaming Lips: „At War with the Mystics“ (Warner). Tourdaten: 4. 5., Hamburg; 6. 6., Köln; 28. 6., München