: Auf Teufel komm raus
Besinnliches zum Osterfest: Wie der ehemalige TV-Pfarrer Jürgen Fliege zu den Kranken spricht, einfühlsam und verständig. Er spendet den Mühseligen und Beladenen Trost, Rat und sogar einen Schluck Wasser
VON ALBERT HEFELE
Fliege ist ein kregler Mittfünfziger. Gut in Schuss, wie man so sagt. Schick angegraut, aber schlank und gelenkig, fast jungenhaft. Na ja, jugendlich auf jeden Fall. Ein gut aufgelegter Mittfünfziger, der auf die Leute zugehen kann. Das hat er gelernt als Bergabeiterpfarrer in Aldenhoven und während seiner Talkshow-Zeit. „Fliege – die Talkshow“. Gelernt ist gelernt, das kann er immer noch, auch wenn das Publikumsinteresse schon mal größer war. Heutzutage finden seine Buchvorstellungs-Vorträge oft im kleineren Rahmen statt. Aktuell: eine Buchhandlung im Allgäu.
Es sind vielleicht vierzig oder fünfzig Leute da, viele Stühle bleiben leer. Obwohl das Thema brennend aktuell ist: „Sanfte Medizin. Wege aus der Krebskrise“. Fliege hat das Buch nicht geschrieben, sondern die Stimmen diverser Kapazitäten gesammelt: Prof. Dr. med. Walter Köster: „Ist der Mensch zu gutartig, wenn er an Bösartigem erkrankt?“, Dr. med. Karl Probst: „Die Heilkraft der Papaya“, Christel W.: „Die Heilkraft der Gebete“. Alles andere an Alternativheilungsideen kommt natürlich auch vor. Selbstheilung, Indianermedizin, geistig-energetisches Heilen, Hyperthermie usw. usf. Fliege kennt sich aus, schließlich war er mit Hackethal befreundet. Fliege weiß auch, wie man mit dem vorwiegend aus alten Menschen bestehendem Publikum umgeht. Wohlwollend, aber mit straffer Hand.
Das macht gar nichts!
Diese Generation ist es noch gewohnt, zu parieren, wenn einer vom Podium herunter was fragt: „Wie sagt man?“, fragt Pfarrer Fliege: „Das geht mir unter die …?“ „Haaauuuut“, murmeln die Senioren. Oder: „Das geht mir an die …?“ „Niiiereeen“, kommt es brav aus dem Publikum. Fliege denkt sich offensichtlich nichts dabei. Es kommt ihm nicht seltsam vor, dass er Menschen, die alles andere als Kleinschüler sind, wie solche behandelt. Er fühlt sich im Recht, schließlich ist er da, um sich um die zu kümmern, die da mühselig und beladen sind.
Wie um die Husterin. Kaum hat der Vortrag nämlich angefangen, muss eine Frau lange und hartnäckig husten. Der Pfarrer ist aber überhaupt nicht böse: „Das macht gar nichts“, sagt Fliege gütig, schreitet durch die Reihen zu der Husterin und reicht ihr ein Glas Wasser aus seiner Wasserflasche. Lässt sie fast jesushaft teilhaben an seinem Getränk! Nicht nur die Husterin ist beeindruckt von so viel Volksnähe. Der hätte das doch gar nicht nötig, immerhin war der Mann lange im Fernsehen, immerhin ist der Mann irgendwie immer noch berühmt.
Auch wenn seine ganz große Zeit ein Weilchen her ist. Zwischen 94 und 2005 gab es „Fliege – die Talkshow“ von Montag bis Donnerstag. Jede Woche, die der Herr werden ließ: Pfarrer Fliege, ihm gegenüber eine vom Schicksal gebeutelte Person. Der Fernsehpfarrer wusste immer Rat, mindestens hatte er Trost parat. War das so? Es scheint so. Es scheint in der kollektiven Erinnerung derer, die schon nachmittags den Fernseher einschalten, so gespeichert zu sein.
Denn warum sonst sollten die vorwiegend sehr reifen Semester zu ihm kommen? Leute, die das Leben kennen, denen man nicht so leicht etwas vormachen kann. Leute, von denen nahezu alle Erfahrungen mit eigener Krankheit und/oder dem Tod naher Angehöriger haben. Manche gehen durchaus souverän damit um. Wie die Dame mit dem – wahrscheinlich – russischen Akzent. Die von ihren diversen Wiedergeburten als Mitglied des Adels berichtet und die ganze Aufregung um die Sterberei gar nicht verstehen kann. Fliege solle mal Stellung nehmen, warum die Kirche eine solches Gedöns um das Hinscheiden macht, wenn man doch eh immer wiederkehrt? Sie wisse da genau Bescheid und könne bei Bedarf die näheren Gründe ihres Hinscheidens gerne erläutern. Der Pfarrer summt und knarzt unentschieden ein wenig herum. Was soll man dazu schon sagen?
Schon zweimal tot!
Gott sei Dank wollen auch noch andere gehört werden und drängen die Wiedergeborene in den Hintergrund. Einige sind dabei, deren Schicksal einen sachte erschaudern lässt. Die Frau, deren Tochter Hautkrebs hatte, deren Mann schon seit jeher mit allem geschlagen war, was man sich an Krankheiten holen konnte. Krebs hatte er natürlich auch. Gestorben ist er dann an einem Herzinfarkt im Auto, während der Fahrt. Gott sei Dank ist sie, die Frau gefahren, sonst wäre sie jetzt auch schon tot. Glück gehabt? Nicht ganz, die Frau war mittlerweile wegen diverser Malaisen auch schon zweimal klinisch tot! Auch für einen Routinier keine leichte Aufgabe.
Was kann man einem solchen Menschen raten, dessen Problem nicht heißt: „Wie kann ich gesund werden?“ Die Frage lautet natürlich anders: „Warum muss mir das alles passieren? Was zum Teufel habe ich getan, dass mich das Schicksal dermaßen beutelt?“ Was rät der TV-Pfarrer dieser Frau? Was kann – wer auch immer – dieser Frau raten, die da als lebender Vorwurf sitzt und die Tragödie ihres Lebens erklärt haben möchte. Selbst wenn Jesus persönlich, meinetwegen auch Mohammed oder Buddha oder alle zusammen vor dieser Frau stünden, würden sie sich betreten räuspern, sich abwenden und mit der Schulter zucken. Die Antwort auf eine solche Frage gibt es nämlich schlichtweg nicht. Die weiß keiner.
Außer Fliege. Fliege schränkt jovial die Hände und schaltet das verständnisvolle Triefauge ein. Dann klappt Fliege die Augen zur Decke und rät nach kurzem Zögern, genau diese Frage anders zu stellen. „Mach aus einem Warum ein Wozu.“ Die Frau mit dem russischen Akzent nickt begeistert, und die Frau mit dem furchtbaren Schicksal guckt verständnislos. Fliege rät, sich mal darüber Gedanken zu machen, wohin uns die Krankheit haben will? „Ins Grab?“, möchte man spontan nachfragen, aber so war es natürlich nicht gemeint. Die Krankheit will, dass wir unter Schmerzen unser Leben ändern. Sagt Fliege. Mit siebzig? Leichter gesagt als getan. Aber so genau will es der Vortragende nun auch wieder nicht wissen.
Gut, dass sich ein jüngerer Mann, einer der wenigen jungen im Publikum, zu Wort meldet. Er könnte dem Vorschlag, dem Ruf nach Veränderung noch folgen. Er ist noch relativ jung und früh erkrankt. Seine Krankheit sitzt in der Schilddrüse. Akut. Seine junge Frau ist dabei. Sie erzählen freimütig und vertrauensvoll. Gegenüber Herrn Fliege muss man sich nicht verstellen. Herr Fliege kann so verständnisvoll nicken. An was er wohl grade in seinem echten Innersten denkt? „Wie lange muss ich diese Ochsentour durch solch winzige Buchhandlungen in uninteressanten Kleinstädten noch durchziehen?“ Vielleicht denkt er das, aber was rät er?
Ich hab dich lieb!
Fliege sagt, er, der junge Mann möge sich das befallene Organ einmal vorstellen. Sich ein Bild machen von jenem. Und dann mit ihm den Dialog beginnen. Dialog? „Na, wie geht’s Schilddrüse? Wie war dein Tag?“ So nicht, aber nicht viel besser: „Ich hab dich lieb“. Kein Witz. Tatsache. Fliege rät diesem jungen Mann, mit seiner Schilddrüse zu turteln. Natürlich gibt es therapeutische Ansätze, die vorschlagen, so mit Krankheit umzugehen. Man kann davon was halten oder nicht. Keinesfalls ist es aber erlaubt, jemand in einer solchen Situation, diesen Ansatz ohne Vorbereitung um die Ohren zu hauen. Wer soll irgendwas damit anfangen können? Woher nimmt Fliege die Unverfrorenheit mit Techniken zu hantieren, die er offensichtlich nur sehr bruchstückhaft bzw. nur vom Hörensagen her kennt? Wer hat ihm das eingeblasen?
Vielleicht Julius Hackethal, auf dessen Bekanntschaft er hörbar stolz ist. Der Julius, der war schon einer. Fliege schildert schmunzelnd, wie ihm der Freund während eines Besuches ansatzlos die Prostata befummelte, nur mal so, weil er grade da war. Wegen Vergrößerung und Krebsvorsorge natürlich. Aber: Auch wenn es sich um eine einwandfrei medizinische Handlung drehte und man Hackethal nicht persönlich gekannt hat – wer möchte sich diese Szene unbedingt leibhaftig vorstellen? Hackethal bei Fliege den Drüsencheck vornehmend. Na Mahlzeit.
So was erzählt Fliege den staunenden Senioren. Was will er ihnen damit sagen? „Ich bin ein extrem lockerer Typ“ vielleicht. Hackethal war auch ein extrem lockerer Typ. Mir ist nichts fremd, ihr könnt Vertrauen haben. Zu Typen wie Hackethal? Hackethal, dem selbst ernannten Erneuerer der Medizin, der vor allem ein exzessiver Selbstdarsteller war. Zu solchen Typen soll Vertrauen entstehen?
Es scheint zu entstehen. Die Besucher dieses Vortrages belächeln Fliege nicht oder pfeifen ihn gar aus der Bücherei. Sie haben tatsächlich Vertrauen zu ihm. Aber: Warum eigentlich? Nur weil der Herr auf dem kleinen Podium lange im Fernsehen war und einen Bambi für die beliebteste Talkshow bekommen hat? Das ist lange her, und auch wenn es gestern gewesen wäre – was hat es zu bedeuten? Welche Talkshow ist der Rede wert? Was passiert da, und wem hilft es weiter? Glaubt irgendjemand tatsächlich, ein TV-Programmdirektor suchte sich einen Talkmaster wegen seiner kompetenten Inhalte aus?
Leute, die auf dem Bildschirm erscheinen, müssen vor allem eines: Sie müssen wirken. Sie müssen im Licht der Scheinwerfer gut rüberkommen. Das ist ihr einziger Auftrag und ihre einzige Daseinsberechtigung. Deswegen ist Fliege überhaupt in diese Rolle gerutscht. Seine Kirchenoberen von der EKD haben ihm nicht umsonst den Auftrag erteilt, sich in TV- und Hörfunk zu kirchlichen Themen zu äußern. Sein Talent als „unterhaltsamer, einfühlsamer und tiefsinniger Redner“ erkannt. Anders formuliert: der Mann kann plappern und er macht sich optisch gut.
Genau deswegen hat Fliege sich als Fernsehpfarrer etabliert. Und wer wollte ihm dies vorwerfen? Man hat ihn gefragt, und er hat’s gemacht. Besser als für Kleingeld seelsorgern. Einer, der sich aufopfert, ist der Talkpfarrer sicher nicht. Muss er auch nicht. Wieder muss man die Frage anders herum stellen: Wie kommt man auf die Idee, Fliege könnte helfen? Er ist weder Arzt noch Therapeut, er ist Pfarrer, und er kann im besten Falle das, was Pfarrer im Allgemeinen können: Ihren Schäfchen das Gefühl geben, als würden sie das menschliche Theater verstehen und vor allem: zuhören. Auf Teufel komm raus. Die Wiedergeborene mit dem – wahrscheinlich – russischen Akzent ist ihm jedenfalls genau dafür dankbar. Endlich kann sie berichten, wie sie ihr Ehemaliger per Flinte zur viktorianischen Zeit ins vorübergehende Jenseits befördert hatte. Fliege bemüht sich um kritischen Pragmatismus und fragt sich und die etwas irritiert guckenden Senioren, warum all die Wiedergeborenen von höherem Geblüte zu sein scheinen. Man höre selten bis nie, dass ein Wiedergeborener Waschfrau gewesen sei oder Schlimmeres. Das sei doch recht seltsam und könne doch unter Umständen auch nicht sein, dass nur Adelige wiedergeboren werden und der Rest im Jenseits verbleiben müsse. Dazu schmunzelt er fadenscheinig, aber eine eindeutige Stellungnahme ist ihm nicht zu entlocken. Talkshow-Routine.
Kommet zum Büchertisch!
Die Frau ist für den Moment ruhig gestellt, und diese Lücke im Ablauf nutzt der TV-Seelsorger elegant, Vortrag und Diskussion für beendet zu erklären. Nun sei es genug des Gespräches, man wolle zur Handlung schreiten. Und die Gemeinde zum eigentlichen Kern dieser Veranstaltung führen: zum Büchertisch nämlich, auf dem schon stapelweise „Wege aus der Krebskrise“ ihrer Bestimmung harren. Kauf und – vor allem – Signatur durch Fliege, den ewigen Fernsehpfarrer.