: Auf dem Broadway von Pyatigorsk
WOMAD RUSSLAND Eindrücke aus dem Nordkaukasus, wo das erste, polizeilich geschützte Weltmusik-Festival des Landes stattfand. Über Kehlkopfgesänge, Maultrommeln und ein spezielles Woodstock-Feeling
VON JENS UTHOFF
Im hinteren Teil des Transporters ruckelt und zuckelt es. Steine schlagen gegen den Unterboden der Karosserie. Klack, klack. Es geht einen steilen Schotterweg hinauf. Von hinten, wo die Sitze sind, sehen wir nur einen von Bäumen gesäumten schmalen Weg. Es regnet. Wir heizen mit 50 Sachen da hoch.
„Warum muss der so fahren?“, fragt die Musikerin mit den geflochtenen Zöpfen, bunter Perlenhalskette und großen Ohrringen. „Hauptsache, wir kommen bald an“, sagt eine andere. Die beiden Nigerianerinnen sind Sängerinnen in Seun Kutis Band Egypt 80, die auftreten wird.
Der Festival-Shuttlebus hält dem Steinschlag stand. Musiker, Techniker, Organisatoren, Manager und Journalisten werden gemeinsam zum Veranstaltungsort gefahren. Das Festivalgelände liegt auf dem Mount Mashuk, einem Berg nahe der Stadt Pyatigorsk im Nordkaukasus. Pyatigorsk ist eine 140.000-Einwohner-Stadt und Verwaltungssitz der Region. Am Eingangsportal des Areals stehen schwer bewaffnete Polizeieinheiten. Es geht durch Detektoren, wie es sie auch am Flughafen gibt, auf das Gelände.
Gründer Peter Gabriel
Das Festival Womad („World of Music, Arts and Dance“) findet an diesem vorletzten Septemberwochenende zum ersten Mal in Russland statt. Womad wurde 1982 von dem britischen Musiker Peter Gabriel und seinem Label Real World ins Leben gerufen und fand bisher schon in 22 verschiedenen Ländern statt. Es gilt als Weltmusik-Festival, wobei dieser Begriff schon immer ungenau war – im Programm stehen an diesem Wochenende folkloristische Tänze und Gesänge, aber auch Rock, Ska, Jazz bis hin zu Afrobeat – unzählige Stile.
Es ist alles andere als selbstverständlich, dass Womad nun im Nordkaukasus stattfindet. Die Region Stawropol, in der die Stadt liegt, grenzt an Dagestan und Tschetschenien, beides Krisengebiete. Hinzu kommt, dass Festival-Gründer Peter Gabriel ein prominenter Pussy-Riot-Supporter ist, somit also als „Feind Russlands“ gilt.
„Ich hatte Zweifel, Womad hierher zu bringen, weil es in der Region bisher kaum Festivals gab und auch nur wenige Universitätsstädte gibt“, sagt Alexander Cheparukin, künstlerischer Leiter von Womad, bei einem Gespräch im Mediazelt. „Viele halten diese Ecke Russlands für die rückständigste und reaktionärste Gegend des Landes.“
Cherupkin ist erstaunt über die Offenheit der Leute: Etwa 10.000 Menschen besuchen das Festival an den beiden Tagen; und das, obwohl es das ganze Wochenende regnet und der Boden immer schlammiger wird. Insbesondere die jungen Kaukasier trotzen dem Wetter und feiern. Es ist ein buntes, disparates Bild, das sich auf dem Festivalgelände zeigt: Familien in traditionellen Gewändern (Männer und Jungs in dunkler Weste, Frauen in weiten, bestickten Kleidern), junge Straßenkids mit Vokuhila-Frisuren, Metalfans, wenige Punks. Soldaten und Polizisten patrouillieren. Schulklassen bilden Tanzkreise, Kinder tragen Superman-Kostüme.
Alle schlendern umher rund um diese schmale Straße mitten im Wald, die durch das Gelände führt. Riesige Tücher in Lila hängen dort von den Bäumen hinab. Am Straßenrand befindet sich ein Markt mit Holzhandwerk und Kleinkunstkitsch. Ketten, Schmuck, Accessoires. Dazwischen kann man auf Strohballen sitzen. An einem Grill werden Spieße gegrillt. Auf zwei Lichtungen sind die großen Bühnen aufgebaut, eine weitere befindet sich in einer Scheune.
Auf der Hauptbühne sieht man eine in weiße Tücher gehüllte Frau. Sie bewegt sich schlingernd in Front ihrer Band. Inna Zhelannaya ist Folksängerin, Freejazzerin, Trance-Actress, Electronica-Diva und Progrockerin – alles in einer Person! Zhelannaya ist ein Exportschlager Russlands bei der sogenannten Weltmusik. Treibender Bass mit viel Hall. Dazu summen elektrisch verstärkte Geigen. Bis eine funky-frickelnde Gitarre einsetzt. Die Stimme der Moskauerin gleitet dazu durch alle Lagen.
Göttliches Gurren
Traditioneller Gesang und seine zeitgenössischen Adaptionen sind das Oberthema des Festivals. An der Band Huun Huur Tu aus der russischen Republik Tuwa kommt man in dieser Hinsicht kaum vorbei. Die vier Herren um Bandgründer Kaigal-Ool Khovalyg spielen in der gedrängten Scheune. Sie verbinden Kehlkopfgesang mit Maultrommelwirbeln, Klänge tuwinischer Lauten mit sanften Beats. Wie beschreibt man diesen Gesang, der da durch die gedrängten Reihen dröhnt? Mönchisches Murmeln? Göttliches Gurren? Obskur. Das Publikum ist begeistert.
Einer der Stars des ersten Tages aber singt gar nicht. Er spielt nur Dudak, eine traditionelle, armenische Flöte: Djivan Gasparyan ist der populärste Musiker Armeniens. Der 85-Jährige tritt mit seinem fünfköpfigem Ensemble auf und wird frenetisch gefeiert. Zuvor hatte ich ein Gespräch mit seiner Managerin. „Er hat schon für Stalin gespielt“, sagt sie. „Nicht im Ernst“, sage ich. „Doch. Er war in den Kreisen um Stalin und wurde öfter als Musiker angeheuert. Er hält Stalin immer noch für einen tapferen Mann.“ Da sind wir wirklich unterschiedlicher Meinung. Sie lacht und schüttelt den Kopf. „Er hat auch für Chruschtschow, Breschnew und Putin gespielt.“
Gasparyan sitzt derweil wie ein Patron in der Bühnenmitte. Seine Musik hat großartige Momente – hier klingt ein wenig Béla-Bartók-Artiges an, da jazzige Töne. Am meisten gefeiert wird am ersten Tag aber nicht der Stalinfan, sondern die spanische Rock-Ska-Band Muyayo Rif mit ihrem Bläser-Partysound. Die Combo aus Barcelona wird noch Stunden nach dem Auftritt mit der Bitte um gemeinsame Smartphone-Fotos und Autogramme umlagert. Der Posaunist wird seinen Enkeln erzählen, wie er für kaukasische Kids Stunde um Stunde in Kameras grinsen musste.
Am späten Abend schließlich tritt der Nigerianer Seun Kuti mit seiner zwölfköpfigen Band Egypt 80 auf. Jazziger Afrobeat-Sound hallt über das Gelände, Menschen jubeln in Gummistiefeln. Die Mitfahrerinnen aus dem Shuttlebus tanzen nun im Regen auf der Bühne.
Ein absurdes Bild ergibt sich am Tag eins, als Alexander Chloponin das Festivalgelände durchschreitet. Chloponin ist einer der mächtigsten Männer im Putin-Staat, Vizeministerpräsident Russlands und Gouverneur des Nordkaukasus. Ein Tross von einem Politiker, drei Assistenten, 20 Security-Leute und zehn Kameraleuten marschiert durchs Gelände. Ein Statement für die Medien, und nach fünf Minuten ist der Spuk vorbei.
Tuyara Degtyareva, PR-Managerin von Womad Russia, ist am Ende des Tages erleichtert. „Wir sind sehr froh, dass wir es geschafft haben, Womad nach Russland zu bringen“, sagt die 24-Jährige. Vor allem die jungen Leute auf dem Festival sind nett und bemüht, offen und kontaktfreudig. Tuyara berichtet über wenig Schlaf und die Strapazen der letzten Wochen – das Festival wurde erst kurz zuvor aus Sicherheitsgründen auf den Berg Maschuk verlegt. Sie ist durchnässt, erkältet, aber glücklich. „You look like in Woodstock“, sage ich zu ihr und zeige auf die schlammverkrustete Strumpfhose. „Oh, yeah. Woodstock!“
Schlammverkrustet geht es am nächsten Tag weiter. Beim Auftritt von Nino Katamadze aus Georgien stört die 3.000 Menschen vor der Hauptbühne das langsame Versinken in den matschigen Erdboden aber immer noch nicht. Katamadze ist im angrenzenden Georgien ein Star, das Publikum singt ihre Songs mit. Die Sängerin könnte als georgische Folkversion Aretha Franklins durchgehen. Sie singt in der Landessprache, trägt die tiefen, bluesigen Stücke mit beeindruckender Präsenz vor. In ihrem opulenten rot-grünen Gewand fegt sie über die Bühne; den Rest der Band nimmt man kaum wahr. Bei der gediegenen Festival-Atmosphäre hat man dennoch immer den Eindruck, dass genau abgesteckt ist, was erlaubt ist und was nicht. Zu Letzterem zählen: politische Ansagen. Kein Wort zu den Antihomosexuellen-Gesetzen, zu Pussy Riot erst recht nicht.
Am späten Abend des letzten Festivaltages scheint die transnationale Band Shantel + The Bucovina Club Orkestar die Grenzen austesten zu wollen. Zu mitreißenden Balkan-Popklängen fordern sie das Publikum auf, die Bühne zu stürmen. „Schert euch nicht um die Security“, sagt der aus Frankfurt stammende Sänger Stefan Hantel. Das Publikum kommt der Aufforderung aber nicht nach. Also versucht es Hantel mit zynischen Ansagen. „We’re here together in the wonderful land of milk and honey“, kündigt er einen Song an.
Allein aufgrund der Tatsache, wie viele Leute eine gute, verregnete Party gefeiert haben, darf man das Debüt von Womad Russia als Erfolg werten. Stalinfan hin, Putintreue her. Und musikalisch? Mit den traditionell folkloristischen Klängen ist es schwer – vor allem, weil man ihre Geschichte nicht in Erfahrung bringen kann. Die Transformationen klassischer Folkmusik in Pop-Kontexte, die das Festival bestimmten, sind jedoch zumeist spannend. „Womad is over!“, grölt jemand.
Müde geht es in die Nacht hinaus. Bergab, durch den Wald, gemeinsam mit einer Journalistin aus Pyatigorsk und der abziehenden Meute. An der Hauptstraße Pyatigorsks endet der Fußmarsch. Eine schmale, nun leer gefegte Promenade liegt in der Mitte der Allee. „Sie nennen diese Straße Broadway, haha!“, sagt die Journalistin.
Der kaukasische Broadway liegt mit seinen geschlossenen Cafés und dem herumfliegenden Herbstlaub nun gottverlassen da. Womad is over.