Die Chancenlosigkeit des Kindes

THEATER Die aktuellste Moks-Produktion, „Schmidts unglaubliche Geschichte“, thematisiert das Kindsein mit alkoholkranken Eltern – und versagt der Protagonistin jeden tragfähigen Lösungsansatz

Theo Fransz hat für das Moks drei gute Stücke geschrieben. Doch diesmal ist er in einer problematischen Schieflage hängen geblieben

Ängstlich kuschelt sich Jona unter die Decke. Lärm prasselt auf sie nieder, offenbar nicht zum ersten Mal. „Meine Eltern streiten sich wieder“, erklärt sie den Gestalten rechts und links im Bett: ein Cowboy und ein Ballett-Tänzer. Jona selbst trägt eine Ritterrüstung. Sie ist ein Kind im Kettenhemd – allem Anschein nach eine notwendige Vorsorge.

„Schmidts unglaubliche Geschichte“ im Moks thematisiert eine Kindheit mit alkoholkranken Eltern. Das Stück soll geeignet sein für Kinder ab sechs – doch selbst für Ältere bedeutet es eine ziemliche Herausforderung. Denn der niederländische Bühnenautor Theo Fransz macht einen Konflikt auf, der für Kinder übermächtig ist: Was könnte sie hilfloser machen, als die eigenen Eltern nur als Feinde zu erfahren? „Wenn sie trinken, verwandeln sie sich in große Schimpf und Stinkedrachen“, erklärt Jona ihren imaginierten Freunden, dem Cowboy und dem Ballerino. Dass Mama und Papa manchmal auch anders seien, wird kurz erwähnt, doch auf der Bühne sind die Eltern ausschließlich als furchterregend aufgerissene Münder zu erleben, die das Kind anfauchen – eine wirkungsmächtige Video-Installation von Cantufan Robin Klose.

Harte gesellschaftliche Realitäten hat das Moks zum Glück noch nie gescheut. Doch in diesem Stück lässt Fransz das Kind von vornherein allein. Allein mit sich, den bösen Eltern und zwei Fantasiefiguren. In der Realität braucht so ein Kind externe Unterstützung, eventuell Pflegeeltern. Stattdessen vergräbt sich Jona in seine Innenwelt, bleibt chancenlos, und, schlimmer: Jeder Versuch, sich zu wehren, macht die Eltern nur aggressiver, verschlimmert deren Drohungen. „Ich sperre dich eine Woche in den dunklen Keller!“, schreien die Lippen und Zähne des Vaters – denen Jona, überzeugend gespielt von Lisa Marie Fix, nichts entgegensetzen kann. Außer einer weiteren Runde in ihrer Fantasiewelt. Die immerhin beschert dem Publikum schön ausgespielte Szenen, in denen René Oley und Walter Schmuck als Neuzugänge im Moks-Ensemble einen guten Einstand geben.

Theater ist keine Maschinerie zum Ausspucken von Lösungen für Probleme aller Art. Dafür kann es Perspektiven verschieben, Ungeahntes erfahrbar machen und spielerisch begeistern. Bei „Schmidts unglaublicher Geschichte“ findet nur – aber immerhin – Letzteres statt.

Der übermächtige Grundkonflikt, eine negative Dynamik, wie kann das enden? „Schmidts unglaubliche Geschichte“ endet gar nicht. Sie hätte es vielleicht, wenn man der ohnehin schon verschobenen Uraufführung eine weitere Entwicklungswoche zugestanden hätte. So aber bleibt das Kind chancenlos: Mit Gefährten, die wieder zu Barbie-Puppen erstarren, und der hollywoodesken Hoffnung, dass morgen alles besser werde: „Ganz bestimmt!“ Warum sollte es?  HENNING BLEYL