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Archiv-Artikel

„Brüssel ist jetzt strenger“

INTERVIEW BARBARA OERTEL

taz: Herr Ministerpräsident, haben Sie im Moment noch Zeit für Ihre Hobbys wie Motorradfahren?

Sergei Stanischew: Leider überhaupt nicht, weder zum Motorradfahren noch für meine anderen Hobbys wie das Tauchen.

Am 16. Mai wird die EU-Kommission den Fortschrittsbericht zu Rumänien und Bulgarien vorlegen. Erwarten Sie grünes Licht für einen EU-Beitritt Bulgariens 2007?

Ich denke, ja, denn wir haben eine Menge erreicht. In den vergangenen acht Monaten hat das Parlament mehr als 60 Gesetze verabschiedet, die direkt mit der Implementierung europäischer Vorschriften verbunden sind. Das ging aber nur, weil wir jetzt eine große Koalition haben, die um die Bedeutung des EU-Beitritts weiß und auch den Willen hat, entsprechend hart zu arbeiten. Vorher wurden immer nur partielle Veränderungen vorgenommen. So wurde das Strafrecht in den vergangenen zehn Jahren 25-mal abgeändert. Aber für ein funktionierendes Rechtssystem braucht es eine stabile Gesetzgebung.

Dennoch macht sich in Brüssel Unmut breit. Offensichtlich gehen die Reformen nicht schnell genug voran.

Bedenken Sie, dass die Situation in der EU jetzt eine ganz andere ist als 2003 vor der Aufnahme von zehn neuen Ländern. Voriges Jahr gab es Probleme in der EU, zwei gescheiterte Referenden in Frankreich und den Niederlanden, und es gab Probleme mit den Finanzen. Die Stimmung in der EU ist jetzt viel pessimistischer, was eine neue Erweiterung angeht. Das beeinflusst natürlich die Kommission. Sie geht jetzt mit Bulgarien und Rumänien viel strenger um als mit den zehn Beitrittsländern. Dennoch denke ich, dass die EU-Kommission und auch das EU-Parlament jetzt klar machen müssen, dass Bulgarien und Rumänien nicht nur aufgrund geostrategischer Erwägungen in die EU kommen, sondern weil sie imstande sind, die Politik der EU auch umzusetzen und effektive Mitglieder der Gemeinschaft zu sein.

Nein, ich bin optimistisch, denn die EU-Kommission war für uns immer ein sehr wichtiger Partner, wenn es darum ging, unsere Fortschritte objektiv zu bewerten, aber auch kritisch zu beurteilen, was noch zu tun bleibt.

Und da scheint es ja noch einiges zu geben, vor allem in den Bereichen Korruption und organisierte Kriminalität. Lag Bulgarien lange mit seinen Reformbemühungen noch vor Rumänien, so hat sich das Verhältnis jetzt umgekehrt.

Ich bezweifle, dass es einen großen Unterschied zwischen den beiden Ländern gibt. Natürlich konzentrieren wir all unsere Kräfte darauf, in den Bereichen voranzukommen, die die EU beunruhigen. Man darf aber nicht vergessen, dass die bulgarische Regierung erst seit August vorigen Jahres im Amt ist. Zudem haben wir, glaube ich, ein echtes Vermittlungsproblem.

Könnten Sie das etwas genauer erklären?

Ich nenne ein Beispiel. Im Falle Rumäniens wird immer betont, dass das Land erfolgreicher im Kampf gegen Korruption ist, weil bereits gegen bekannte Politiker ermittelt wird. Auch in Bulgarien wurde dieser Prozess bereits in Gang gesetzt. Es gibt einen neuen Generalstaatsanwalt, der sein Amt vor einem Monat angetreten hat. Dieser Mann hat den Willen und die Kompetenz, die Generalstaatsanwaltschaft zu reformieren und notwendige Ermittlungen einzuleiten, die jahrelang verschleppt wurden. Er hat eine besondere Abteilung geschaffen, die in der Generalstaatsanwaltschaft Korruption und organisierte Kriminalität bekämpfen soll. Ich bin sicher, dass in Kürze schon konkrete Resultate vorliegen werden.

Einmal abgesehen davon, dass Bulgarien vielleicht wirklich Schwierigkeiten hat, seine Fortschritte deutlich zu machen, hat das Land gerade in Deutschland derzeit eine denkbar schlechte Presse.

Wenn ich europäische Zeitungen lese, erkenne ich unser Land nicht wieder. Man bekommt ja den Eindruck, dass Bulgarien für den einzelnen Bürger gefährlicher ist als jedes andere europäische Land. Wir haben Probleme, das bestreiten wir nicht, versuchen aber, diese in den Griff zu bekommen. Ich kann immer nur sagen: Die Sicherheitslage hier ist nicht schlechter als in vielen anderen EU-Staaten.

Eine große deutsche Boulevardzeitung hat im vorigen Dezember ein vermeintliches Brüsseler Papier zitiert, das offensichtlich seinen Ursprung in Sofia hat. Darin war unter anderem zu lesen, dass die bulgarische Regierung komplett reformunwillig sei. Wer könnte dahinterstecken?

Ich bin kein Ermittlungsorgan, sondern Regierungschef. Es ist bekannt, dass viele negative Informationen, die oft eins zu eins in Brüssel aufgenommen werden, ihren Ursprung in hiesigen politischen Kreisen haben. Als meine Partei in der Opposition war, haben wir die Regierung auch stark kritisiert, jedoch niemals unsere abweichende politische Meinung dazu benutzt, dem Land politisch zu schaden. Was das Material konkret angeht, so gibt es darin viel Rhetorik, die sich aber auf keine Fakten stützt.

Trotzdem scheint diese Panikmache zu greifen. Viele Menschen in Deutschland haben Angst vor einem Beitritt Rumäniens und Bulgariens.

Ich weiß, es gibt Ängste, dass eine Welle von Migranten aus den neuen Beitrittsländern nach Europa kommt, um den Einheimischen Arbeitsplätze streitig zu machen. Doch das ist nach der ersten Erweiterungswelle nicht passiert. Einmal abgesehen davon, dass Bulgaren, die in der EU arbeiten wollen, das bereits jetzt tun. Sagen wir es einmal anders: Die Betriebe der alten EU-Mitglieder erhalten Zugang zu neuen Märkten. Bulgarien ist zwar kein gigantischer Markt, aber es ist ein Markt. Das kurbelt ihre Produktion an und schafft Arbeitsplätze. Die Investitionen der Europäischen Union in Bulgarien wachsen jedes Jahr. 2005 waren das 2 Milliarden Euro. Zudem ist das Gewicht Europas in der Welt durch die neuen Mitglieder gewachsen. Wenn wir diskutieren, wie die EU im 21. Jahrhundert aussehen soll, so ist doch klar, dass kein Land allein der globalen Konkurrenz gewachsen ist. Nur eine Erweiterung der EU kann ein Rezept für ihre effektive Existenz sein.

Man gewinnt manchmal den Eindruck, dass die Frage des Beitrittsdatums eine Schicksalsfrage für Ihr Land ist. Macht es einen so großen Unterschied, ob Bulgarien am 1. Januar 2007 oder ein Jahr später beitritt?

Es geht hier in erster Linie um Psychologie. In vielerlei Hinsicht würde die bulgarische Gesellschaft eine Verschiebung des Beitritts nicht als Verschiebung, sondern als klare Zurückweisung verstehen. Die bulgarische Gesellschaft hat bisher für die Reformen einen hohen Preis bezahlt. Dies war immer von dem Wunsch motiviert, ein gleichberechtigtes Mitglied der EU zu werden. Ich bin davon überzeugt, dass das Beitrittsdatum 1. Januar 2007 die Reformen in Bulgarien stimulieren wird. Die EU ist nicht nur ein gemeinsamer Markt, nicht nur eine Vereinigung verschiedener Staaten. Das ist eine Union von Gesellschaften, die gleiche Werte teilen. Und die Bulgaren sind bereit, europäisch zu denken. Noch sind sie sehr proeuropäisch eingestellt.

Das klingt ja fast wie eine Drohung. Was wären die politischen Konsequenzen einer Verschiebung des Beitritts?

Eine Verschiebung des Beitritts würde denjenigen politischen und wirtschaftlichen Kräften in die Hände spielen, die nicht wollen, dass das Land nach europäischen Regeln lebt und es Stabilität gibt, dafür aber weiter informelle Beziehungen zwischen Wirtschaft und Politik herrschen.

So wie Ataka, eine Gruppe, die total antieuropäisch ist. Die Zustimmung zu Ataka in der Gesellschaft wächst.

Solche Phänomene wie Ataka gibt es in vielen europäischen Ländern. Das ist eine populistische Bewegung, die die Menschen einschüchtert, nach dem Motto: Wenn Bulgarien der EU beitritt, verschwinden Arbeitsplätze, bulgarische Betriebe werden geschlossen, und Ausländer werden bulgarischen Boden kaufen. Viele Reformen wurden schlecht, dumm und manchmal sogar kriminell in Angriff genommen. Eine ganze Generation hat, was ihre weitere Lebensperspektive angeht, den Preis dafür gezahlt. Ataka nutzt diese Unzufriedenheit für ein Protestvotum gegen alle aus. Ataka ist zwar Realität, aber keine, die das politische Leben und die Demokratie in Bulgarien ernsthaft bedroht.

Die Regierungsbildung im August war schwierig. Viele sagen, dass der EU-Beitritt der einzige Konsens ist, der die Koalition zusammenhält. Wie stabil ist Ihre Regierung?

Ich bin kein Hellseher. Natürlich war die Regierungsbildung schwierig, weil es bisher immer Koalitionen gab, in denen eine Partei dominierte. Dennoch hat die Koalition funktioniert, sonst wäre es nie möglich gewesen, so viele Gesetze zu verabschieden. Jetzt geht es doch nicht darum, bis zum 1. Januar 2007 durchzuhalten. Dieser Tag kommt, und wir werden im selben Land aufwachen. Über Nacht geschehen keine Wunder. Im Rahmen der EU werden die beiden ersten Jahre die schwierigsten sein.

Welche Rolle kann und will Bulgarien für den Westbalkan spielen?

Bulgarien kann nicht gedeihen, wenn hinter seinen Grenzen Instabilität und Chaos herrschen. Dieses Jahr ist für die Zukunft des Westbalkans entscheidend. Zwar haben auch wir keine magische Formel für das Kosovo, aber schon die Tatsache des Verhandlungsprozesses ist ein Wert. In seinem Zentrum stehen so wichtige Fragen wie Standards für Minderheiten sowie Dezentralisierung. Ich betone immer, dass die EU eine klare Strategie gegenüber dem Westbalkan braucht, die auch eine europäische Perspektive einschließt. Wenn nicht, wird das sehr negative Folgen auch für die EU haben. Wer will der EU ihre globale Rolle denn abnehmen, wenn sie nicht einmal zur Stabilität bei ihren näheren Nachbarn beitragen kann.

Wie stellen Sie sich Ihr Land in zehn Jahren vor?

Jetzt sieht Bulgarien viel besser aus als vor zehn Jahren. Das ist auch ein Ergebnis des europäischen Integrationsprozesses. Ich sehe, wie sich das Denken meiner Generation verändert hat. Wir als Bulgaren sind selbstbewusst geworden und wissen, dass wir nicht dümmer oder weniger zivilisiert sind als andere europäische Nationen.