: „Genau wie in Tschernobyl“
Feldhaubitzen, Innentäter, Hochwasser, Pfusch: Ein GAU im AKW Esenshamm droht nicht nur bei Flugzeugabsturz, warnt die Physikerin Oda Becker. Gestern stellte sie ihre Studie vor – die Sperrzone könnte bis Hildesheim reichen
taz: Wie realistisch ist Tschernobyl an der Unterweser?
Oda Becker: Wir haben eine ganze Menge Einwirkungen gefunden, die mehr oder weniger automatisch zu einem schweren Unfall führen. Von den Störfällen in den letzten Jahren weisen viele auf eine mangelhafte Sicherheitskultur im AKW hin. Dies sehen auch offizielle Stellen so.
Nicht erst seit Tschernobyl heißt es: „Deutsche AKW sind sicher.“ Sie dagegen sehen „gravierende Schwächen“ im Sicherheitssystem. Warum?
Beim bisher gravierendsten Störfall in Esenshamm, 1998, wurde ein Überdruckventil von Hand ausgeschaltet – und die Anlage trotzdem hochgefahren. Genau wie in Tschernobyl: Da konnten auch per Hand Sicherheitssysteme ausgeschaltet werden.
Wurde das nicht nachgebessert in Esenshamm?
Da wurden optische Anzeigen verbessert. Aber das Anfahren des AKW mit abgesperrten Ventilen ist immer noch möglich. Die mangelnde Sicherheitskultur blieb. Herstellungsfehler an Zwischenkühlern etwa, sicherheitsrelevanten Teilen, wurden nicht bemerkt: Es gab keinerlei Qualitätskontrolle.
Diskutiert wird vor allem über einen Flugzeug-Angriff – der Terrorfall schlechthin?
Nein. Ähnliches wäre in Esenshamm auch mit Drohnen möglich oder mit einer Feldhaubitze. Besondere Gefährdung besteht auch durch Innentäter.
Vor drei Wochen wütete in Esenshamm ein kleiner Tornado. Drohen dem AKW auch Gefahren durch das Wetter?
Unserer Einschätzung nach ja. Für eine Sturmflut mit gleichzeitigem Tidehochwasser reicht die Deichhöhe nicht aus. Sobald das AKW mehr als vier Meter überschwemmt wird, droht selbst nach einer Notabschaltung dann eine Kernschmelze.
Vier Meter Überschwemmung ist aber ganz schön viel.
Man hat ausgerechnet: Bei einem Tidehochwasserstand von sechs Metern muss dafür ein Deich auf einer Länge von 2,20 Meter brechen. Wegen des Klimawandels muss man aber heutzutage von einem Wasserstand von 6,90 Meter ausgehen. Da ist die Gefahr wesentlich höher.
Was wären die Folgen einer Kernschmelze mit offenem Containment?
Die Zone, die man als unbesiedelbar bezeichnen würde, erstreckt sich in Windrichtung bis zu 200 Kilometer weit.
Nach den Notfallplänen ist eine Evakuierung ab einer Strahlendosis von 100 Millisievert vorgesehen. Wie viel Zeit bleibt dafür?
Vom Beginn einer Kernschmelze bis hin zur Freisetzung bei zerstörtem Containment dauert es zwei bis drei Stunden. Dann habe ich noch ein paar Minuten, bis der Wind die Wolke vor Ort gebracht hat. Nach Bremen etwa, knapp 50 Kilometer, dauert das bei mittlerer Windgeschwindigkeit gut 70 Minuten. Im Grund sollten die Leute vorher weg.
Ist das realistisch?
Für Bremen bestehen keine Katastrophenschutzpläne. Wenn die Leute dort zunächst in Häuser flüchteten, mit geringer Schutzwirkung, sieben Tage lang, stiege ihr Risiko einer tödlichen Krebserkrankung dennoch deutlich an. Die mögliche Inhalation radioaktiver Stoffe haben wir dabei gar nicht berücksichtigt. Und von Tschernobyl wissen wir: Das Gefährlichste ist nicht der sofortige Tod, sondern die vielen schweren Erkrankungen.
Was wäre in Rodenkirchen, dem Nachbarort des AKW?
Da wäre schon nach einem Tag eine tödliche Dosis erreicht.
Interview: sim