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Anekdoten statt Popgeschichte: In seiner Autobiografie scheint der Musiker Lüül nur zu Gast im eigenen Leben

Vielleicht war einfach zu viel los in seinem Leben. Zu viele Drogen, zu viele Länder, prominente Namen, zu viel Musik vor allem, um das alles zwischen zwei Buchdeckel pressen zu können. Lutz Ulbrich hat es trotzdem probiert, erzählt in der nach seinem Spitznamen benannten Autobiografie „Lüül“: wie er als Gitarrist von Agitation Free den Krautrock erfinden half, wie in Deutschland die elektronische Musik entwickelt wurde und in New York der Punkrock, wie er als Begleitmusiker und Liebhaber von Nico um die Welt zog, in die Neue Deutsche Welle geriet und in die Charts, und schließlich die 17 Hippies mitgründete. Da spielt er bis heute das Banjo.

53 Jahre, die Stoff für eine Geschichte der bundesdeutschen Popkultur hätte geben können – hätte der Verlag Schwartzkopf & Schwartzkopf dem Autor einen Lektor zur Seite gestellt. So hat Ulbrich streng chronologisch alles aufgeschrieben, aber wirklich alles: Man erfährt, dass die Gema-Ausschüttung in Jahre 1982 für einen Citroën DS reichte oder dass Nico und Lüül das gemeinsame Heroin im Streichholzschächtelchen über die Grenze nach Frankreich schaffen wollten. Leider allerdings erfährt man dagegen kaum etwas über diese mittlerweile so fernen Zeiten, durch die Ulbrich fast wie ein moderner Simplizissimus torkelt. Meist scheint er nur unbeteiligter Gast, registriert Orte, Namen, Daten, aber keine Stimmungen und Zeitzeichen. Stets scheint dem Protagonisten verborgen zu bleiben, in welchen größeren Zusammenhängen er sich gerade bewegt.

Allein die Episode in den frühen 80ern, als ihn eine Plattenfirma in ein weißes Jacket und Tasten-Krawatte steckte, um ihn zum NdW- Star aufzubauen, wäre ein eigenes Buch wert gewesen über eine untergegangene Epoche, steinzeitliches Marketing und die Absurditäten des Showgeschäfts. Doch aus dem halb gelungenen Schildbürgerstreich wird eine biedere Nacherzählung, der in keinem Moment die eigene popkulturelle Bedeutung gegenwärtig zu werden scheint.

Auch wenn Ulbrich John Cale oder Lou Reed trifft, über Umwege Kokain an Iggy Pop und David Bowie verkauft, dann ist das immer nur noch eine weitere Anekdote unter vielen. Unverarbeitet ausgeworfen wirkt dieser schier endlose Fluss an Eindrücken und Erlebnissen. So reist man mit Ulbrich durch die Jahrzehnte, ohne wirklich zu verstehen, wie sie denn waren, die Zeiten.

Erhellender ist da schon die dazugehörige CD „Zeitreise“. Auf dieser Best-of-Compilation führt der Weg von den – auch ohne Drogen schwer psychedelischen – Gitarrenexkursionen der Schülerband Agitation Free über das schwerblütige „Reich der Träume“, das er für Nico geschrieben hat, den NdW-Hit „Morgens in der U-Bahn“ bis zum osteuropäischen Cowboy-Song „Mad Bad Cat“, mit dem die 17 Hippies den Andreas-Dresen-Film „Halbe Treppe“ beschließen. Nicht jeder der siebzehn ausgewählten Songs ist in die Geschichte der populären Musik eingegangen – aber in der Zusammenstellung ist zu hören, was Ulbrich vergessen hat aufzuschreiben: Wie es sich anfühlte, dieses Leben, wie sie waren, die Zeiten, damals. Das sollte ihn, die graue Eminenz der bundesdeutschen Popgeschichte, doch stolz machen, beweist es doch zumindest eins: Lutz Ulbrich ist eindeutig ein besserer Musiker als Schriftsteller.

THOMAS WINKLER

Lutz Ulbrich: „Lüül“, 320 S., 19,90 € Do., 22 Uhr im Quasimodo: Buchpremiere, Lesung und Konzert