: Opferzahl unbekannt
Die Auswirkungen der Radioaktivität sind zu vielfältig und die Datenlage ist viel zu ungenügend
AUS BERLIN NICK REIMER
Der Reaktor-GAU von Tschernobyl wird weit mehr Leben kosten als offiziell prognostiziert. So das Fazit einer Studie, die gestern von Greenpeace vorgestellt wurde. Greenpeace fordert deshalb: aus der Atomkraft aussteigen.
Es ist der alte Streit zwischen David und Goliath: Die UNO tagte im Herbst auf dem so genannten Tschernobyl-Forum, einem Zusammenschluss von UNO-Untergruppen und den betroffenen Ländern. Ergebnis: Tschernobyl wird 4.000 Krebstote fordern. Eine der UNO-Untergruppen ist die Internationale Atomenergiebehörde IAEA. Diese habe nach Greenpeace-Erkenntnissen die Zahlen aus politischen Gründen manipuliert. Greenpeace prognostiziert 100.000 Tote.
Das immerhin ist unstrittig: „Die Wissenschaft befasst sich schon lange mit den Gesundheitsfolgen von Radioaktivität“, so Heinz Smital, Strahlenphysiker von Greenpeace. Mit interessanten Ergebnissen: Vor einer Generation lag der Grenzwert noch 1.800fach über dem heutigen. Erst vor kurzem wurde der Grenzwert nach neuerlichen Erkenntnissen um 250 Prozent gesenkt.“ Greenpeace wirft dem UNO-Bericht vor, geringere Krebstodesraten zu prognostizieren und andere Todesursachen ganz herauszurechnen.
Um das zu unterlegen, hat Greenpeace Wissenschaftler in den betroffenen Ländern befragt und deren Aussage zusammengefasst. So rechnet die letzte Studie der Russischen Akademie der Wissenschaften mit 93.080 Toten. Das russische Atomministerium prognostiziert dagegen 145 tote Russen. „Das ist natürlich interessengesteuert“, sagt Thomas Breuer, Atomexperte von Greenpeace. Genauso wie die Zahl der der IAEA: „Das japanische Institut für Reaktorforschung kam auf eine Prognose von 90.000 Krebstoten.“ Dazu kämen andere schwere Krankheiten, die zum indirekten Strahlentod führen: Erbkrankheiten, Herzinfarkte, Immunsystemschwächung – das so genannte Tschernobyl-Aids. „Keiner kann sicher sagen, wie viele Menschen an den Folgen von Tschernobyl sterben werden. Dazu sind die Auswirkungen der Radioaktivität zu vielfältig und ist die Datenlage zu ungenügend“, so Breuer.
David ist sich auch sicher, welchen Plan Goliath ausgeheckt hat. Breuer: „Wer behauptet, Tschernobyl würde 4.000 Opfer fordern, leugnet die Schwere dieses Unglücks.“ Aber das Leugnen habe einen Grund: Die IAEA ist jenes UNO-Organ, dass den weltweiten Ausbau der Atomenergie zum Ziel hat. Greenpeace fordert deshalb, den Geschäftszweck der Internationale Atomenergiebehörde zu ändern. Breuer: „Ausstieg statt Ausbau“.
Fakt ist, dass in den nächsten Tagen den Greenpeace-Zahlen weitere fundierte folgen: So stellt die so genannte deutsch-französische Initiative am Freitag auf der Jubiläumswissenschafts-Pressekonferenz eine der bislang umfassendsten Studien zu den Gesundheitsfolgen vor. Auf Wunsch der Ukraine stellte 1996 die deutsche Umweltministerin Angela Merkel gemeinsam mit ihrer französischen Amtskollegin den Wissenschaftlern vor Ort Geld zur Verfügung, um Ergebnisse unabhängig in Zusammenhang zu bringen.
Die Wissenschaftskonferenz ist dafür der beste Ort: Sie gründete sich nach Tschernobyl vor 20 Jahren – um der Medienhysterie Wissen entgegenzustellen.