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Archiv-Artikel

Die islamische Falle

Drei Jahre nach Beginn des amerikanischen Krieges gegen den Irak steht die Administration in Washington einem selbstbewussten Iran gegenüber. Gestärkt durch die gewaltig gestiegenen Öleinnahmen, sonnen sich die Mullahs in dem Gefühl, mit Hilfe von George W. Bush zur Führungsmacht am Persisch-Arabischen Golf aufzusteigen. Die offensive Haltung Teherans in der Atomfrage unterstreicht das Selbstbewusstsein der herrschenden Geistlichkeit, die offensichtlich in der Region ein schiitisches Zeitalter unter persischer Führung heraufziehen sieht, nachdem Amerika mit dem Sturz von Saddam Hussein den Irak als regionalen Rivalen ausgeschaltet und damit das relative Gleichgewicht der Kräfte zerstört hat.

Angesichts des irakischen Dilemmas der USA scheint sich das Regime in Teheran in ziemlicher Sicherheit zu wiegen und einen Luftkrieg der Amerikaner wenig zu fürchten. Sollte sich jedoch die Bush-Regierung dazu entschließen, den Iran anzugreifen, vertrauen die Mullahs auf die Trümpfe, die sie im Irak gegen die USA einsetzen können. Die fünfte Kolonne der iranischen Herrscher auf irakischem Boden könnte ein alles verschlingendes Feuer entfachen, dem sämtliche Pläne der Amerikaner zur Stabilisierung des Irak zum Opfer fallen würden.

Mit seinem Einfluss auf die schiitische Hisbollah im Libanon, deren Machtbasis vor allem im Süden des Landes liegt (Grenzgebiet zu Israel), seiner Allianz mit dem Assad-Regime in Damaskus und seinen wachsenden Interventionsmöglichkeiten in Palästina besitzt Teheran eine ganze Reihe gefährlicher Waffen, die die Vormachtstellung der USA in der Region erschüttern könnten.

Mit der fortdauernden Besetzung des Irak – eines islamischen Kernlands – verschärft Amerika jedoch vor allem die Konfrontation zwischen der muslimischen und der westlichen Welt. Damit hat George W. Bush die schon vorher schwelende soziokulturelle Krise in den Rahmen einer sich verschärfenden politischen und militärischen Auseinandersetzung gestellt. Das ist eine willkommene Chance für die Dschihadisten von al-Qaida zur Mobilisierung kampfbereiten Nachwuchses in den sunnitischen Nachbarländern, wie etwa Saudi-Arabien, wo viele junge Männer den Drang verspüren, für die arabisch-islamische Sache gegen die westlichen Eindringlinge und ihre einheimischen Handlanger zu kämpfen.

Die Lage im Irak bietet den Mullahs in Teheran die Chance, den religiös orientierten irakischen Schiiten ihre Lesart islamistischer Staats- und Gesellschaftsdoktrin schmackhaft zu machen und sie darüber hinaus unter den schiitischen Minderheitsgruppen in der Region zu verbreiten. Schon vor geraumer Zeit (Ende 2004) hat Jordaniens König Abdullah deshalb vor der Entstehung eines „schiitischen Halbmonds“ gewarnt, der Teheran mit Bagdad und Beirut verbinden und somit von Zentralasien bis zum östlichen Mittelmeer reichen würde.

Klar ist, dass im arabischen Osten zwischen Damaskus und Bagdad – wo früher das syrische und das irakische Baath-Regime um die Vorherrschaft rangen – inzwischen mit Hilfe der USA ein Machtvakuum entstanden ist, in dem die führungslos gewordenen Araber sich den expandierenden Persern gegenübersehen: ein seit Jahrhunderten beispielloser Vorgang. Saddams Irak stellte vordem das arabische Bollwerk im Osten dar, dessen Beseitigung durch die Bush-Regierung die Schleusen für den regionalen Aufstieg des Iran geöffnet haben.

Da unter den gegebenen Umständen nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Irak vollends im Bürgerkrieg versinkt, scheint Washington nach Wegen zu suchen, um das Schlimmste zu verhüten. Ein Zerfall des Irak infolge eines totalen Bürgerkrieges zwänge Amerika zum Rückzug, was für Präsident Bush einer militärischen und politischen Niederlage gleichkäme, die ihn zum Opfer seiner eigenen Propaganda-Rhetorik machen würde. Denn damit hätten die „Mächte des Terrors“ über die „Kräfte der Freiheit“ triumphiert. Eine schmerzliche Blamage für die neokonservativen Falken, die erst kürzlich – trotz des irakischen Misserfolges – die Bush-Doktrin des präventiven Militärschlags als unilaterale Handlungsgrundlage des „wohlwollenden Hegemons“ bestätigt haben. Amerikas geopolitisches Versagen im Irak wäre ein Albtraum für die Republikanische Partei, die im November Kongresswahlen zu bestehen hat.

Das kürzlich in die Öffentlichkeit getragene Angebot der USA, zum ersten Mal seit der Revolution von 1979 vor aller Welt in direkte Verhandlungen mit dem Iran über die Lage im Irak einzutreten, unterstreicht die Not, in der sich Präsident Bush befindet. Dies ist das offene Eingeständnis darüber, dass die irakischen Probleme nur mit Hilfe Teherans gelöst werden können. Ein realpolitischer Deal also zwischen dem wiedergeborenen evangelikalen Christen Bush und den islamistischen Erben des Großajatollah Chomeini? Wenn ja, um welchen Preis?

Eine Option für die USA besteht darin, in den sauren Apfel zu beißen und im Irak den strukturellen Einfluss des Iran zu akzeptieren, um ein Auseinanderfallen des Zweistromlandes zu verhindern. Die Frage ist jedoch, ob sich Teheran als Gegenleistung für seine Kooperation damit zufrieden geben würde, im Irak nur eine ähnliche Rolle spielen zu dürfen, wie Syrien es im Libanon getan hat. Andererseits könnte es sein, dass Amerika eine solche Stellung des Iran nur hinzunehmen gewillt ist, wenn die Mullahs auf die Atombombe verzichten.

Der Iran und das sehr nationalbewusste iranische Volk strebt seit dem 19. Jahrhundert danach, jede Fremdbestimmung auszuschließen. Damals führten das russische Zarenreich und das britische Empire die Perser am Gängelband. Deshalb steht heute fast die gesamte iranische Bevölkerung in der Atompolitik an der Seite des Regimes. Das gilt auch für weite Teile der prowestlichen Dissidenten. Es geht nicht um Israel, sondern um die Selbstbestimmung der Perser in dem von ihnen und ihrer Hochkultur seit mehr als 2.000 Jahren beeinflussten Raum zwischen dem Hindukusch und dem Schatt al-Arab. Das Trauma des irakischen Überfalls im Jahr 1980 sitzt bei den Iranern tief. Wäre das revolutionsgeschwächte Land im Besitz der A-Bombe gewesen, hätte Saddam Hussein in ihm nicht eine scheinbar leichte Beute gesehen, so glauben viele Iraner noch heute.

Ein Verzicht Teherans auf die nukleare Option ist daher ohne eine verbindliche Sicherheitsgarantie Amerikas für den Iran und eine von den USA gestützte regionale Sicherheitsarchitektur (vom östlichen Mittelmeer bis zum Persischen Golf) wenig wahrscheinlich. Zumal der Iran sich durch die amerikanische Militärpräsenz in der Region umzingelt sieht, Präsident Bush ihn zur „Achse des Bösen“ zählt und die Mullahs als Förderer des Terrorismus öffentlich brandmarkt.

Eine atomwaffenfreie Zone im Nahen und Mittleren Osten würde allerdings die nukleare Sonderrolle Israels in der Region beenden und seine militärische Vormachtstellung beeinträchtigen. Das wird die amerikanische Regierung vermutlich entgegen ihrer Interessenlage aus innenpolitischen Gründen nicht durchsetzen wollen. Dabei wäre eine atomwaffenfreie Zone wohl die beste Garantie für einen ungehinderten westlichen Zugang zu den Energiequellen am Golf.

Es spricht somit viel dafür, dass der Iran auf seiner Position beharrt und die USA „alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel“ in Betracht ziehen werden (UN-Botschafter Bolton), um zu vereiteln, dass die Mullahs die Fähigkeit erwerben, Nuklearwaffen zu bauen.

Angesichts dessen wird sich früher oder später entscheiden, ob es zur militärischen Konfrontation zwischen den USA und dem Iran kommt oder ob eine Phase der friedlichen Koexistenz zwischen dem Westen und dem schiitisch geprägten Islam beginnt. Letzteres würde bedeuten, dass Amerika und Europa der schiitischen Macht Iran seine regionale Führungsrolle zuerkennt mit allen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Folgen, die damit verbunden sind.

Sollte Amerika aber, vielleicht sogar gemeinsam mit Israel, den Iran mit einem Luftkrieg überziehen, so werden die Experten alsbald feststellen, dass ein solcher Angriff die iranische Bevölkerung zusammenschweißt. Islamische Hardliner, säkular denkende Bürger, unpolitische Zeitgenossen, emanzipierte Frauen ebenso wie verschleierte islamische Schwestern, – sie alle werden hinter der Regierung stehen, um ihr Land vor dem Zugriff der USA zu bewahren. Teheran ist nicht Bagdad: ein schneller Regimewechsel ist nicht zu erwarten. Im Gegenteil, der Krieg wird das Regime stärken, wie damals in den 1980er-Jahren der Angriff von Saddam die noch auf wackeligen Füßen stehende islamische Revolution gestärkt hat.

Im Gegenzug werden die Mullahs alle subversiven Waffen einsetzen, über die sie in der Region verfügen. Der Irak – schon heute ein Schlachtfeld, auf dem sich regionale Kräfte, westliche Armeen und islamistische Terroristen versammeln – würde für die USA und ihre Koalition der Willigen unbeherrschbar werden. Ein ungehemmter Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten würde sich Bahn brechen und das Land vermutlich in drei Teile zerfallen lassen.

Ein kurdischer Kleinstaat im Norden südlich der türkisch-irakischen Grenze, der de facto heute bereits existiert, eine sunnitische Entität im Zentrum des Irak und ein schiitisches Gebilde im Süden wären die Folge. Der Kurdenstaat vor der türkischen Haustür hätte in den Augen Ankaras eine potenziell höchst destabilisierende Wirkung auf die türkischen Kurden, die von jeher ihre Rechte gegenüber Ankara einfordern. Das könnte dem brutalen Chauvinismus der Militärkaste zu einer Renaissance verhelfen und die europäischen Blütenträume der aufgeklärten islamischen Politiker in der Türkei jäh zum Platzen bringen.

Aus dem geteilten Irak würde eine äußerst fruchtbare Brutstätte des Terrorismus, eine Enklave des sunnitischen Extremismus („salafitischer Fundamentalismus“), der seine fanatische Botschaft zur Freude der militant rückwärts gewandten Wahhabiten in Saudi-Arabien überall in der Region verbreiten könnte.

Das wäre nicht nur eine Bedrohung amerikanischer und europäischer Sicherheitsinteressen, sondern beträfe alle irakischen Nachbarländer und entfaltete seine Wirkung noch weit darüber hinaus. Der Ölpreis und damit die globale Wirtschaftsentwicklung wären in erheblichem Maße betroffen, von der Frage der Versorgungssicherheit und den strategischen Energieinteressen Europas, Japans und Chinas und der USA einmal abgesehen.

Der saudische und der jordanische König sähen sich gezwungen, Pufferzonen entlang ihrer Grenzen mit dem Irak einzurichten, um entweder die „sunnitischen Araber zu schützen“ oder unter dem Vorwand, den zu befürchtenden Flüchtlingsströmen entgegenzuwirken.

Der Iran wäre in der Lage, seine Macht auf den ganzen irakischen Süden und selbst auf Bagdad auszudehnen. Teheran könnte seine schlafenden schiitischen Zellen in Kuwait, Saudi-Arabien und Bahrain zum Leben erwecken, und auch über die Stabilität des Libanon mit seiner schiitischen Bevölkerungsmehrheit würde in Teheran entschieden.

Wenn Amerika den Iran angreift, säße der Westen in der islamischen Falle. Der subversive Gegenangriff käme von den Mullahs auf der einen Seite und den sunnitischen Extremisten auf der anderen. Der Zerfall des irakischen Zentralstaates entlang religiöser und ethnischer Linien wäre für das in der heutigen Form seit den 1920er-Jahren bestehende arabische Staatensystem ein tiefer historischer Einschnitt. Daraus könnte eine Kettenreaktion entstehen, wenn andere Staaten wie der Libanon und Syrien ähnliche Erschütterungen erleben. In Beirut würden die proiranischen Schiiten (Hisbollah) die Macht ergreifen und die Christen, die Sunniten und die Drusen zurückdrängen.

In Damaskus hingegen könnten die fundamentalistischen Sunniten (Muslimbrüder, Salafiten) die noch herrschende – mit Teheran verbündete – säkular orientierte alawitisch-schiitische Minderheit entmachten, die die syrischen Sunniten erst seit einer Generation beherrschen.

Die Nutznießer dieser neuen Unordnung wären der Iran und Hisbollah, die sunnitische Hamas in Palästina und ihre Gesinnungsgenossen bei den Muslimbrüdern in Syrien – alles Kräfte, die dem Herrschaftsanspruch der USA in der Region feindlich gegenüberstehen und als antiwestlich eingestuft werden.

Die Türkei, Israel, Jordanien, Saudi-Arabien und die kleinen Golfstaaten hingegen wären durch den Zerfall des Irak großen Erschütterungen ausgesetzt, die ein Ungleichgewicht der Kräfte in einer dann strukturell noch instabileren Region schaffen würden.

Weit über die Region hinausweisend rückt schließlich der Gegensatz zwischen der islamischen und der westlichen Welt ins Blickfeld, sollte Amerika die militärische Konfrontation mit dem Iran suchen. Jenseits der historischen Rivalität zwischen Sunniten und Schiiten und dem fest verankerten Überlegenheitsgefühl der Perser gegenüber den Arabern (viele Iraner bezeichnen die Araber heute noch als „Heuschreckenfresser“) würde wohl die große Mehrheit der Muslime einen Angriff der USA auf den Iran in der schon aufgeheizten Atmosphäre als Angriff auf den Islam als solchen werten.

Dies gilt umso mehr, als die Muslime genau registriert haben, wie Amerika sich kürzlich mit der Atommacht Indien verbündet hat, obwohl die Inder dem Atomwaffensperrvertrag nicht beigetreten sind und bisher den Inspekteuren der internationalen Atomenergie-Agentur jeden Zugang verwehrt haben.

Da ohnehin etwas Grundsätzliches nicht in Ordnung ist zwischen dem säkular geprägten christlichen Abendland und dem religiös orientierten islamischen Morgenland, wird sich die Kluft zwischen den Kulturen vertiefen. Und zwar mit allen gefährlichen Konsequenzen, die in der islamischen Welt, aber auch in unseren Gesellschaften schon sichtbar sind. Der Hass und das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins angesichts des übermächtig erscheinenden Westens, der die Muslime „ihrer Religion entfremden“ und ihnen seine „weltlich bestimmte Werteordnung“ aufzwingen will, wirkt als Mobilisierungsfaktor im Kampf gegen die „moralische Korruption“ des Westens. Das schafft die Bedingungen, die die Dschihadisten brauchen, um in der arabischen Welt, aber auch im Europa der muslimischen Immigranten antiwestliche Gewalt und Terror zu verbreiten. Fest steht, dass viele Dschihadisten und jene, die es werden wollen oder könnten, heute Staatsbürger ihrer Aufnahmeländer sind.

Fazit: Amerika sollte nicht mit dem Feuer spielen, sondern alles daransetzen – und dies mit Hilfe des Iran – die territoriale und politische Einheit des Irak wiederherzustellen. Nur die Schaffung eines unabhängigen, wirklich souveränen Irak, auf dessen Boden keine Besatzungstruppen mehr stehen, der Kurden und Araber umfasst und die Sunniten ausreichend an der Macht und den Öleinnahmen beteiligt, verspricht einen Ausweg aus der Krise und eine Eindämmung des islamistischen Terrorismus.

Nur auf diesem Weg lässt sich der gewachsene Einfluss des Iran begrenzen, der in ein regionales Sicherheitssystem integriert werden muss, um eine Koexistenz mit dem Westen zu verankern. Dies setzt voraus, dass die Palästina-Frage auf der Basis „Land gegen Frieden“ gelöst wird und Israel bereit ist, sich in die von Amerika garantierte Sicherheitsarchitektur des Nahen und Mittleren Ostens einzufügen.