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Archiv-Artikel

Der Wille zum Hirn

Delikate Sauerei: Innereien sind von unseren Speisekarten fast verschwunden. Ein Genuss zwischen Ekel und Leidenschaft

von TILL EHRLICH

Meine Mutter liebt unseren Hund mehr als mich. Das dachte ich als Kind, wenn sie Innereien kochte, für unseren neurotischen Cockerspaniel. Er hieß Kitty, war rotbraun, verfressen und liebte stundenlang weich gekochte und fein geschnittene Lungen, Herzen und Pansen aus der kleinen Hand seiner Herrin. Pansen heißen auch Kutteln, was eine sprachliche Verharmlosung ist. Sie sehen aus wie gelbe Badekappen. Beim Kochen duftet es süßlich, der intensive Geruch kriecht überallhin. Noch unerträglicher war mir, wenn die Mutter sechs Stunden lang Euter kochte. Ich dachte damals, dass sie das nur tut, um ihre närrische Hundeliebe zu demonstrieren. Doch im Stillen genoss sie meinen Ekel und den Abscheu, ja ich bin überzeugt, dass sie das gelantineartige Geschwabbel, das sie sorgsam in Schraubgläser füllte, im Kühlschrank extra neben Butter und Konfitüre stellte, um mich ihre Macht spüren zu lassen. Weil der Vater nie wirklich präsent war, gab es keinen, der mich vor den Innereien und der grenzenlosen Liebe der Mutter hätte schützen können.

Auch in Wien liebt man gekochte und fein gehackte Lungen und Herzen über alles. Die Wiener bereiten daraus eine delikate Speise, die Beuschel oder Salonbeuschel heißt, mit Rahmsoße gebunden, großzügig mit Grünem Veltliner und frisch gepresstem Zitronensaft abgerundet und gern mit Gurkerl und Semmelknödeln serviert wird. Wien ist ja eine Stadt, die selbst eine Innerei ist, ein verschlungenes Gedärm. Vom Beuschel sind die Wiener so begeistert, weil es ihrem viszeralen Wesen gleicht. Sie sind derart verrückt nach Innereien, dass sie sogar Speisen, die eindeutig keine Innereien sind, nach ihnen benennen: Zum Filetbraten sagen sie Lungenbraten. Die Wiener lieben auch Hirn mit Ei, doch selbst in Wiener Beiseln ist diese Speise inzwischen eine Rarität geworden. Die BSE-Angst und zunehmend angepasstes, politisch korrektes Kochen machen selbst vor den hohen Toren Wiens nicht Halt. Den hartnäckigen Ansturm der Türken konnten die Wiener in letzter Minute noch abwehren, doch angesichts der schleichenden Globalisierung der Ernährung scheinen sie allmählich zu kapitulieren. Vor zwei Jahren bin ich deshalb nach Niederösterreich gepilgert, nach Krems an der Donau, um im Wirtshaus Jell selten gewordene Innereien zu probieren.

Das 100-jährige Jell ist ein besonderes Lokal, weil dort Wirtin Ulli Amon-Jell die echte Wirthausküche verfeinert und ihr als Fernsehköchin in der ORF-Sendung „Willkommen Österreich“ wieder zu Ansehen verholfen hat. Im Jell kocht sie kreativ nach den wunderbaren Rezepten ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihrer Urgroßmutter. Gegen die schallend lachende, etwas dominant wirkende blonde Ulli Amon-Jell, die stets im Dirndl unterwegs ist, wirkt Sarah Wiener wie eine Komparsin. Wirtin Amon-Jell sagt, dass sie nur „flotte Mädels“ beschäftigt. „Hier treibt kein Mann sein Unwesen, außer meinen drei Söhnen.“

Zum Wirtshaus Jell gehört eine eigene Fleischhauerei, was für erstklassiges Fleisch und schlachtfrische Weichteile bürgt. „Fleischhauerei“ ist das archaischere, ehrlichere Wort für „Fleischerei“. Ich schätze an den Österreichern, dass sie den Abgrund einer Sache nicht nur benennen, sondern auch genießen können und schaurig-schöne Worte dafür haben. Bei dem Wort „Fleischhauer“ spürt man noch, wie Blut spritzt, Knochen splittern und das arme Tier in Stücke zerhauen wird. „Du kannst meiner Liebe nicht entgehen“, sagt der sentimental-brutale Fleischhauer Oskar in Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ zu seiner erotischen, ewig leidenden Verlobten Marianne, und man ahnt schon das kommende Unheil.

Als ich im Jell zu Mittag saß, wollte ich unbedingt die Spezialität des Hauses essen: geröstetes Schweinshirn mit Ei, ein Gericht, das es in Deutschland nirgends gibt, weil sich ja kaum noch jemand traut, Innereien in der Öffentlichkeit anzubieten. Deshalb war ich ganz verrückt nach dem Hirn mit Ei, auch weil ich es noch nie gegessen hatte und das Jell dafür berühmt ist. Die Kinderportion kostet sieben Euro, neun die für Erwachsene. Doch das Gericht war ausverkauft. Die Kellnerin im Dirndl sagte: „’tschuldigung, aber das Hirn muss immer ganz, ganz frisch sein, fast schlachtwarm, sonst ist es net richtig gut.“ Und weil sie nur immer kleine Mengen vorrätig hätten, aber „unsere lieben Gäste so närrisch danach sind“, sei es für heute leider nicht mehr vorrätig. Ob der Herr morgen wiederkommen könne? Das konnte er leider nicht.

Zwei Jahre später, vor drei Wochen, war es so weit. Ich konnte meinen Rückflug nach Deutschland um drei Stunden verschieben, um 120 Kilometer Umweg zu fahren und endlich im Jell geröstetes Hirn mit Ei zu essen. Leicht gehetzt trat ich in die Gaststube. Es war früher Abend, die Diele knarrte, im Ofen knisterte ein Holzscheit, und mir wurde ganz warm ums Herz. Ich liebe die Österreicher dafür, dass sie es schaffen, einen den Kapitalismus vergessen zu machen mit ihrer Gemütlichkeit.

Die Kellnerin war diesmal eine andere, trug aber ebenfalls Dirndl. Ich fragte schüchtern, ob ich das berühmte geröstete Hirn mit Ei bekommen und ob ich es bitte ausnahmsweise ganz schnell kriegen könne, weil ich noch zum Flughafen müsse. Sie lächelte komplizenhaft, sagte, dass sie ein Hirn vorrätig habe, und fragte, wie lange genau ich Zeit hätte. Leider nur 25 Minuten. Dann könne ich ganz beruhigt sein, sagte sie. „Es geht sich aus mit Ihrem Hirn.“

Sieben Minuten später stellte sie einen ebenso schlicht wie liebevoll dekorierten Teller vor mir ab. Darauf war großzügig eine Portion angerichtet, die äußerst appetitlich aussah und mich an Rührei erinnerte. In der Mitte steckte eine halbe braune Eischale. Darin ruhte ein rohes Dotter. Ich bestellte vorsorglich Marillenschnaps. Es ist ein einfaches Gericht: Das grob gehackte Schweinshirn wird in einer glühend heißen Pfanne mit Zwiebelwürfeln angeröstet und dann mit gehackter Petersilie und frischem Eiklar ganz schnell bei starker Hitze gestockt. Das ist alles. Es war perfekt zubereitet, subtil mit weißem Pfeffer und Meersalz gewürzt, schmeckte herrlich zart – und trotzdem spürte ich leichten Ekel aufsteigen.

Zudem hatte ich ein Problem mit dem rohen Eigelb; warum es zusätzlich zur äußerst eiweißhaltigen Speise gereicht werden musste, war mir in dem Moment schleierhaft. Es musste ein mir verwehrter geheimer Code sein, ein Initiationsritus oder ein archaischer Fruchtbarkeitszauber. Ich wollte nicht noch mehr auffallen, nachdem ich der netten Kellnerin schon so viele Umstände bereitet hatte. Also mischte ich tapfer das rohe Dotter unter den heißen Hirnbrei. Ich spürte, wie der Ekel in mir stärker wurde. Ich versuchte, ihn mit dem Marillenschnaps zu verscheuchen, doch es half nur wenige Augenblicke lang. Allein der Geruch der Speise weckte den Ekel erneut. Ich bestellte rasch noch eine Marille, eine doppelte. Doch Ekel ist eine starke Empfindung. Ich rang mit ihr, wollte sie mit aller Kraft verdrängen. Vergebens, der Ekel war stärker als der Wille zum Hirn.

Natürlich hatte ich zuvor schon unzählige Male unwissentlich Hirn gegessen. Ob in Frikadelle, Bratwurst, Weißwurst, Bierschinken oder im Leberkäse – nur Vegetarier können den Innereien entgehen. Überall, wo etwas zu einer feinen Wurstmasse oder Pastete verarbeitet ist, kann man so gut wie sicher sein, dass darin die ungeliebten Innereien versteckt sind. Und auch der Gammelfleischskandal hat noch einmal vergegenwärtigt, dass in der Fleisch- und Wurstindustrie nun wirklich nichts weggeworfen wird, und schon gar kein Hirn.

„Hirn macht schlau“, hat die Mutter früher oft zu mir gesagt. Was sie mir damit wohl sagen wollte? Doch ich war ein hoffnungsloser Fall, mein innerer Ekel vor Hirn war stärker als der Wille der Mutter. Aber das lag lange Zeit zurück, inzwischen war die Mutter weit weg, und die ganze Welt hatte sich verändert und war gegen Innereien eingenommen. Angesichts der Tatsache, dass das Hirn und mit ihm fast alle anderen Innereien aus unserer täglichen Ernährung offiziell nahezu verschwunden sind, wollte ich nun zur kulinarischen Avantgarde gehören und meine Vorurteile und Ekelgefühle überwinden und endlich lernen, ein Hirn mit Genuss zu verspeisen. Angestrengt rief ich alle positiven Eigenschaften der Innereien in mir wach, wie geschmackliche Intensität oder besonderen Eiweißgehalt – doch es half nicht, ich saß vor einem delikaten und mit Liebe gerösteten Hirn im gemütlichsten Wirtshaus der Welt, und der Ekel ließ sich durch kein rationales Argument vertreiben.

Ekel kommt ja nicht aus bewusstem Nichtwollen, sondern vom Überdruss, der sich viel schneller einstellt, wenn man die geschmackliche Intensität der Innereien nicht gewöhnt ist. Ein gekochtes Herz oder eine gebratene Niere ist eben etwas anderes als Nudeln mit Schinken. Die Innereien mit ihren schieren Fetten, Eiweißen und animalischen Aromen erinnern in ihrer Direktheit auch an die kannibalischen Urgelüste unserer Ahnen.

Von gerösteter Leber bis zu Fasanenbrustfilets im Speckhemd: Im österreichischen Residenz Verlag ist jüngst Ulli Amon-Jells „Wirtshauskochbuch“ erschienen (237 Seiten, 35 Euro) TILL EHRLICH, 41, ist freier Autor in Berlin