: Leben und sterben in New York
ALLTAG Abtauchen in eine fremde und bizarre Welt: Joseph Mitchells Reportagen über das Strandgut einer Metropole in der Zeit der Großen Depression
New York ist ein mythologischer Ort, ein Ort der Sehnsucht und diffusen Erwartung, ein Ort, den man bereits kennt, obwohl man vielleicht noch nie dagewesen ist, weil das Kino immer schon große Geschichten über diese Stadt erzählte. New York ist zwar nicht mehr die Stadt Nummer eins auf der Welt, aber sie war es mal, und je weiter man das Rad der Zeit zurückdreht, desto faszinierender erscheint die Metropole.
Joseph Mitchell, der 1929 mit 21 Jahren nach New York ging, um Journalist zu werden, hat die Stadt auf eine ganz eigene Art erforscht. Als Nachtreporter der Herald Tribune berichtete er über die alltäglichen Katastrophen einer Großstadt, bis er schließlich bei The World-Telegram anheuerte, um Interviews und Reportagen zu machen. Menschen, denen er nicht gerne zuhörte, waren „Damen der besseren Gesellschaft, Wirtschaftskapitäne, berühmte Schriftsteller, Priester, Filmschauspieler (mit Ausnahme von W.C. Fields) und alle Schauspielerinnen unter fünfunddreißig. Die interessantesten Menschen sind für mich Ethnologen, Bauern, Prostituierte und ab und zu ein Barmann.“
Joseph Mitchell kommt zu Gute, dass er gerne einfach nur das Treiben um sich herum beobachtet und zuhört. Er beschreibt den mühsamen und harten Job der Burlesque-Tänzerinnen, die es sich nicht erlauben können, bei der Arbeit betrunken zu sein, weil sonst ganz schnell „die Vereinigung der Frauen gegen Alles“ über den Intendanten herfallen würde, er spricht mit Mr. Burger, der als Broadway-Promoter „Sensationen wie Verwandte ermordeter Verbrecher, Ballontänzerinnen und indische Gedankenleser als Vaudeville-Nummern bucht“. Er sieht der 19-jährigen Jan Marsh zu, die dort anfängt, wo der normale Striptease aufhört. Sie zieht sich an und ist davon überzeugt, mit ihrer Nummer „dem Stripteaserummel den Garaus“ zu machen und ihrem Land einen großen Dienst zu erweisen.
Fächertanz und Schweigen
Joseph Mitchell kommt immer direkt zur Sache. Schon nach dem ersten Satz befindet man sich mitten in einer verrückten Geschichte. „Die betörende, gertenschlanke Sally Rand, Tochter eines Maisfarmers in Missouri, die während ihrer stürmischen Karriere als erste Fächertänzerin Amerikas Gefängnisaufenthalte, Peitschenhiebe und ein Schicksal schlimmer als der Tod erleiden musste, saß in ihrer schwarzsilbernen Garderobe im Brooklyn Paramount Theatre auf einem Diwan und rollte langsam die hautfarbenen Strümpfe von ihren berühmten Beinen.“
Und dann erfährt man alles, was es mit dem Fächertanz auf sich hat, und zwar von Mr. L. Sittenberg, der jährlich 650 Pfund Straußenfedern von Kapstadt importieren lässt, mit denen die Tänzerinnen formal gesehen ihre Nacktheit bedecken. Als die Sittenpolizei 1930 zum ersten Mal dagegen einschritt, machte sie den Fächertanz unfreiwillig populär, denn die Verhaftung von Sally Rand, der berühmtesten Fächertänzerin, ließ die Nachfrage nach Straußenfedern in die Höhe schnellen.
Bei Joseph Mitchell taucht man tief in eine fremde, absonderliche Welt ein, die es schon lange nicht mehr gibt. Es ist die Zeit der Großen Depression. Mitchell schafft mit seinem klaren, einfachen und dennoch sehr eleganten journalistischen Stil eine Atmosphäre, die einen sofort in ihren Bann zieht. Man würde gern mit dem stadtbekannten Anarchisten und immer elegant gekleideten Carlo Tresca am schiefen Tresen einer heruntergekommen Bar stehen und mit dem „dienstältesten politischen Flüchtling der Stadt“, dem kämpferischen Redakteur, Mitstreiter der Emma Goldmann und persönlichen Feind von Mussolini plaudern.
Mit seinem investigativen Journalismus war er eine Art Vorläufer von Schriftstellern wie Truman Capote, Tom Wolfe oder Jane Kramer. Die letzten 30 Jahre vor seinem Tod 1996 jedoch verstummte er. Er suchte zwar jeden Tag sein Büro im New Yorker auf, aber niemand wusste genau zu sagen, was er eigentlich tat. Geblieben aber sind seine frühen Arbeiten, die im nunmehr dritten Reportageband „New York Reporter“ auch auf deutsch vorliegen, in dem wieder die Magie New Yorks aufblitzt, weil Mitchell die Gestrandeten, Exzentriker und Spinner zu Wort kommen lässt und sie mit großer Empathie zum Leben erweckt.KLAUS BITTERMANN
■ Joseph Mitchell: „New York Reporter. Aus der größten Stadt der Welt“. Aus dem amerikanischen Englisch v. S. Koch und A. Stumpf. Diaphanes, Zürich/Berlin 2013, 344 S., 22,95 Euro