: Tabu der Hässlichkeit
ZEICHENSÄTZE Die brasilianische Musik und die Bilder dieser literataz
VON DETLEF DIEDERICHSEN
Als Music Lover muss man Brasilien unendlich dankbar sein: Seit nun fast hundert Jahren wächst dort ein komplettes popmusikalisches Paralleluniversum, mit ganz anderen Regeln und Bräuchen als in seinem europäisch-nordamerikanischen Pendant, mit einer eigenen Geschichtsschreibung, eigenen Narrativen, eigenen Bezügen.
Wie aber konnte sich die brasilianische Musik entwickeln, wie sie sich entwickelt hat, obwohl sie doch immer wieder Berührungen mit der anglo-amerikanischen Popwelt hatte – einerseits dadurch, dass auch in Brasilien Jazz und Rock gehört wurden, gerade auch von den kreativsten Musikern. Andererseits dadurch, dass die brasilianische Bossa nova einen kaum zu unterschätzenden Einfluss auf eben diese anglo-amerikanische Popwelt hatte und die bis dahin geltenden Zeichensätze von Sanftheit, Melancholie etc. für immer veränderte.
Vielleicht lag die Stärke und Immunität der Musica Popular Brasileira – MPB – darin, dass man das „Popular“ eigentlich auch weglassen konnte, bzw. darin, dass es eben, anders als in der nördlichen Welt, nicht die Zweiteilung in „leicht“ und „ernst“, „Pop“ und „Klassik“, „oben“ und „unten“ gibt. Europäisch geprägte Kreise haben zwar immer wieder versucht, diese Teilung durchzusetzen, aber nicht zuletzt Komponisten wie Heitor Villa-Lobos unterliefen diese Bemühungen, indem sie sich auf der Suche nach der „Brasilidade“ eben bei afro-brasilianischer und indigener Musik umsahen. Quasi als Ausgleich dazu war in der MPB harmonisch und rhythmisch alles erlaubt und die große Leistung eines Antonio Carlos Jobim besteht ja nicht zuletzt darin, das reiche musikalische Instrumentarium, das ihm sein Lehrer Hans-Joachim Koellreutter mitgegeben hatte, quasi als trojanisches Pferd in Popsong-Formate hineinzuschmuggeln.
Alles anders, als es scheint
Komplett anders als im nördlichen Popkontext funktionierte auch von Anfang an das Coverdesign – das merkt selbst der kosmopolitischste Raritätenjäger spätestens, wenn er versucht, vom Cover einer brasilianischen Platte auf die Musik zu schließen. Design ist hier ein vernachlässigter Bereich, der meistens billigen und unambitionierten Kräften als lästige Notwendigkeit überlassen wird. Die Zahl der ikonischen Cover ist in der MPB geradezu beschämend klein. Und es gibt nur einen, die Regel bestätigenden, dazu historisch gescheiterten Versuch, es anders zu machen: das Team Villela/ Pereira.
Viele der wenigen ikonischen Cover wurden designt vom ehemaligen Werbegrafiker Cesar G. Villela unter Verwendung von Fotos des Fotografen Francisco Pereira. Zunächst arbeiteten die beiden vor allem für die brasilianische EMI-Niederlasung Odeon, dann für das Irrsinnsprojekt Elenco des Musikproduzenten Aloysio de Oliveira, der quasi eine Indie-Label-Heimat für seine Bossa-Freunde und die folgende Generation zu schaffen versuchte und dabei wirtschaftlich grandios scheiterte.
Auch Villela/ Pereira waren mit an Bord, als Gestalter fast aller Elenco-Cover und eines grafischen Grundkonzepts, das vor allem auf der Beschränkung auf Schwarz-Weiß mit Rot basierte. Nachahmer oder Folgekonzepte gab es nicht, entnervt wanderte Villela in die USA aus und lebt heute als verarmter Maler wieder in Rio. Auch wenn es heute nicht nur beknacktes, sondern auch modernes „State of the art“-Design bei brasilianischen Plattencovern gibt, versteht es sich als verkaufendes Produktdesign, nicht etwa als visuelle Entsprechung oder verlängerter Arm eines musikalischen künstlerischen Statements. Dementsprechend kümmern sich in Brasilien die Musiker auch höchst selten selbst um die Gestaltung ihrer Produkte.
Auch hier ein Erklärungsversuch: Eine Eigentümlichkeit in der brasilianischen Musik ist das Tabu der Hässlichkeit. Es gibt keine Parallele zur Verzerrung, zum Überblasen, zur Atonalität in der MPB, es herrscht das Diktat des Wohlklangs. Man könnte sagen: Es gibt keinen musikalischen Realismus. Selbst die ambitioniertesten Musiker scheinen banal-romantische Verklärungen einer ganzheitlichen Weltdarstellung vorzuziehen bzw. die unangenehmen Dinge lieber den Textern zu überlassen. Kräfte, die das zu ändern versuchten (etwa die Tropicalisten), stießen auf Unverständnis und konnten sich am Ende nicht nachhaltig durchsetzen. Da ist es nachvollziehbar, dass sich auch ambitioniertere Designer auf die Position des Gebrauchsgrafiker zurückziehen.
Also Obacht beim Lesen brasilianischer Plattencover. Die Dinge sind nicht, wie sie scheinen, der Zeichensatz ist ein anderer – wie bei der Musik. Und die Erforschung dieses Universums kann unendlich bereichernd sein.
■ Der Autor leitet die Abteilung für Musik, Tanz und Theater im Berliner Haus der Kulturen der Welt