: Weine nicht, wenn der Regen kommt
Drei Tage dauert es 1986, bis die radioaktive Wolke Norddeutschland erreicht. Da stellt man in Bremen fest, dass die Landesmessstelle für Radioaktivität gerade aufgelöst wurde. Tausende demonstrieren – im radioaktiven Regen
von Armin Simon
„Es ist was passiert. Schließ Türen und Fenster und lass die Kinder im Haus.“ Helmut Fischer hatte nicht viel Zeit für lange Erklärungen am Telefon.
Es gab genug anderes zu tun. Das Schrittfiltergerät in Gang setzen, etwa, oben im ersten Stock: Schläuche ins Fenster klemmen, Ventilator an. Die Luft pfeift durch den Filter. Der Zeiger, der ans Zählrohr gekoppelt ist, schlägt aus. Die Analyse des Filterpapiers, ein paar Minuten später, im Gammaspektrometer, bringt Gewissheit. Tschernobyl ist da. In Bremen.
Es war der 29. April, wahrscheinlich. An diesem Tag beginnen die Aufzeichnungen des Labors für Umweltradioaktivität an der Bremer Universität. Ein Labor, das eher zufällig überlebt hat. Der Professor weilte schon lange im Ausland, eine Hand voll Mitarbeiter kümmerten sich um die Geräte. Ab und an kammen Physikstudenten mit Bodenproben vorbei, in denen sie Atomtest-Fallout nachwiesen.
Seit 20 Jahren gebe es „keinerlei Bedarf“ für die Messung von Radioaktivität, hatte Eva-Maria Lemke, die Bremer SPD-Umweltsenatorin, ein halbes Jahr zuvor verkündet und die Landesmessstelle für Radioaktivität im staatlichen Hygieneinstitut geschlossen. Fischer und seine KollegInnen durften damals ein paar Geräte übernehmen.
Jetzt rufen sie in der Behörde an. Gemeinsam mit ein paar Studenten sind sie plötzlich Bremens Radioaktivitätsexperten. Ihr Telefon steht nicht mehr still. Ihre Doktor- und Diplomarbeiten müssen warten. „Wütend“ sei er gewesen, sagt Fischer, selbst „atomkritisch“ eingestellt. „Weil passiert ist, wovor wir immer gewarnt hatten. Und wovon man uns immer erzählt hatte: ‚Das kann nicht passieren.‘“
Dann kommt der Regen. Tröpfelt und prasselt und bringt die Strahlung runter. Fischer schöpft Wasser aus den Pfützen, schleppt die Kanister ins Labor: 5.000 Becquerel pro Liter. Nach dem Regen strahlt der Boden. 10.000 Becquerel sind es auf dem Bremer Marktplatz. Auf jedem Quadratmeter.
„Die Leute haben mich für verrückt erklärt, dass ich noch Milch trinke“, erinnert sich Christiane Rieve. Wo die Apothekerin, die gegen Esenshamm und Brokdorf demonstriert hat, doch hochschwanger war. Andere ließen Frisches im Regal liegen, kauften säckeweise Milchpulver, stiegen um auf Konserven, Importobst und Treibhausgemüse. „Ich fand das irrational“, sagt Rieve. Ihre Strategie: „Die Gefahr minimieren, aber trotzdem noch Lebensmittel zu mir nehmen.“ Keine Pilze, kein Wild, lieber Wurzeln als Salat. Gemüse zweimal waschen. Keine Straßenschuhe in der Wohnung. Und Vitaminpillen futtern. Bremerland-Milchtüten erhalten einen zusätzlichen Stempel: mit aktuellen Messwerten.
„Wir mussten von jedem frischen Produkt die Becquerelzahlen wissen“, erzählt Robert Baier, Inhaber des ersten Bremer Bioladens „Kraut&Rüben“. NaturkostkundInnen fragen nach. Der Demeter-Verteilerdienst in Hamburg reagiert schnell. Mit Geigerzählern werden Karotten und Frühlingszwiebeln vermessen, die Werte auf dem Lieferschein vermerkt. Vielen reicht auch das nicht. „Ich hatte einen Kunden, der hat ein ganzes Rad Comté-Käse geordert“, sagt Baier: „12 Monate gereift.“ Nur bei Milchpulver muss der Kaufmann passen: „Das gab es nicht in Bio-Qualität.“
Bei einer DKP-Versammlung in der Mensa der Hochschule spricht die Parteiführung von einem „Zwischenfall“ und bekräftigt das Ja zur Atomkraft – wenn sie der Sache der Arbeiterklasse nutze. Lebhafte Diskussionen brechen los. „Manche vom Parteivorstand haben sich da prima lächerlich gemacht“, berichtet ein Teilnehmer.
Für den 7. Mai rufen Atomkraftgegner zu einer Demonstration auf. Tausende strömen auf den Marktplatz. „Das war eine Betroffenenkundgebung“, sagt Mitorganisator Peter Willers. Für echten Protest fehlt der konkrete Gegner. Die Stimmung ist gereizt, wütend, vor allem aber ohnmächtig. Plötzlich fallen Regentropfen. Die letzte Wolke von Tschernobyl. Mütter flüchten mit ihren Kindern unter die Rathausarkaden, Menschen fangen an zu weinen. „Es gab so was wie ’ne Panik“, sagt Willers. „Alle in den Dom“, ruft er ins Mikrophon. Der Küster, der am Eingang protestiert, „der wurde überrollt – das war ein Go-In“. Als Willers innendrin die Kanzel erklettert, stellt ihn der Hausherr zur Rede. „Ich hab’ ihm gesagt: ‚Das, was wir hier machen, ist wichtiger.‘“
Tage später weicht die Sprachlosigkeit ersten Forderungen. „Freier Eintritt in alle Hallenbäder und Öffnung aller Turnhallen“ verlangen 1.000 Bremer Kinder auf einer Demo. Ihre Spielplätze sind längst kontaminierte Zone. „Den giftigen Regen“, brüllt ein Dreijähriger im Kindergarten, „den schieß ich tot. Pengpengpengpengpeng.“